Experte Nowak befürchtet soziale Revolten
Neoliberale Reform der Mindestsicherung könnte FPÖ-Kernschicht vergraulen
Wien – Weniger Mindestsicherung für kinderreiche Familien, für viele Alleinerziehende und Ausländer, Zwölfstundentag für Arbeitnehmer sowie die Absicht, die Notstandshilfe abzuschaffen: Mit Plänen wie diesen bewege sich die türkis-blaue Bundesregierung klar auf neoliberalem Kurs – und mache damit genau das Gegenteil dessen, was eigentlich nötig sei, meint der Menschenrechtsexperte Manfred Nowak.
„Das ist die Weiterführung jener Politik, die vor dreißig Jahren, unter der britischen Premierministerin Margaret Thatcher und dem US-Präsidenten Ronald Reagan, von Weltbank und anderen Finanzinstitutionen zur Bedingung gemacht wurde. Die Funktionen des Staates sollen so weit wie möglich auf private Träger übergehen, vor allem bei den sozialen Leistungen“, sagt Nowak im Gespräch mit dem Standard.
In Österreich stehe „vor allem der neoliberale Flügel der ÖVP“für diese Politik. Der türkis-blauen Regierung könne das Ungemach bringen, denn in der FPÖWählerschaft gebe es widersprechende Interessen. „Eine allzu neoliberale Politik wird die Kernschichten der FPÖ vergrämen: Die Arbeiterschaft, die sich sehr stark zur FPÖ bekennt.“
Sollte also im öffentlichen Diskurs das Migrationsthema weniger allgegenwärtig werden und das Sozialthema mehr in den Mittelpunkt rücken, könnte das „die türkis-blaue Koalition sprengen“, meint der Leiter des Forschungszentrums Menschenrechte an der Universität Wien. Gegen den Verlust sozialstaatlichen Zusammen- halts gebe es „gewisse Übereinstimmungen der Sozialdemokratie mit der Rechten, wenn man das geschickt macht“.
Sprengkraft schreibt der international tätige Menschenrechtsexperte der sozialen Frage aber auch weit über Österreichs Grenzen hinaus zu. Weltweit würden „Menschen zunehmend spüren, dass die Politik weiter in die falsche Richtung geht. Über kurz oder lang wird es dagegen Revolten geben, von Linken wie Rechten.“Zwar habe der neoliberale Kapitalismus „aufgrund des gesteigerten Wettbewerbs in den reichen Teilen der Welt zu einer gewissen Zunahme des Wohlstands geführt“, doch gleichzeitig habe er zu einem „unglaublichen Anstieg der Ungleichheit geführt“.
Diese sei heute „stärker als in der Hochzeit der Industriellen Revolution in England Ende des 19. Jahrhunderts“. Sechzig Personen – Nowak: „Sechzig Individuen, von denen etliche diesen Zustand selber als Wahnsinn betrachten und Teile ihres Geldes über Stiftungen zur Verfügung stellen, was aber kein Ersatz für systematische Besteuerung sein kann“– verfügten über gleich viel Reichtum wie die Hälfte der Weltbevölkerung, sprich 3,6 Milliarden Menschen.
Das gefährde den sozialen Zusammenhalt und – wie man in immer mehr Ländern sehe – auch Menschenrechte, Rechtsstaat und Demokratie: „Selbst in der Weltbank, dem Internationalen Währungsfonds und der OECD heißt es inzwischen, die Welt sei wegen der zunehmenden Ungleichheit in einer Krise. Es müsse dringend umgedacht werden.“
Kritik an Ausrichtung der EU
Besagte Organisationen würden von Staaten geleitet, daher liege es „letztlich an den Regierungen, etwa der österreichischen, den Sozialstaat nicht abzubauen, sondern ihn als Beispiel für andere hinzustellen“. Das gelte ganz besonders innerhalb der EU, die Nowak als „stark neoliberale Institution“charakterisiert. „Die EU macht heute durch Fortsetzung der Austeritätspolitik die gleichen Fehler wie in den 1990er-Jahren. Dabei wird sie nur überleben, wenn sie eine neue Sozialpolitik entwickelt.“
Die normativen Grundlagen für einen solchen „Social Pillar“gebe es bereits – in Gestalt des 1976 in Kraft getretenen, 1978 von Österreich ratifizierten Uno-Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Ihn gelte es in den Mittelpunkt zu rücken, um „den Kerngruppen der Gesellschaft zu vermitteln, dass Menschenrechte für alle da sind, nicht nur für Randgruppen – so wichtig das Eintreten für die Rechte etwa von sexuellen Minderheiten oder behinderten Menschen auch ist“.