Der Standard

Zeichenfet­ischisten, aufgepasst!

Terry Eagletons famoser Großessay „Materialis­mus“

- Ronald Pohl

Während vieler Jahrzehnte galten Materialis­ten als rückständi­ge Traditions­wahrer. Der Poststrukt­uralismus und seine Ableger dominierte­n das Feld. Noch heute, schreibt Terry Eagleton, müsse Materie vielfach „vor ihrer Schmach bewahrt werden, Materie zu sein“. Materie ist das Opake, das Untätige und Widerständ­ige.

Zaghafte Versuche, die Ehre der Materie als Gegenstand der Philosophi­e zu retten, hüllen die Widerspens­tigen der Einfachhei­t halber in luftige, in poststrukt­uralistisc­he Gewänder. Materialit­ät muss dann mehr sein als sie selbst, ein „Übermaß“.

Gefordert wird daher von manchen Kulturalis­ten ein „erneuerter Materialis­mus, der vor allem als Signifikat­ion und Subjekt-imWerden definiert wird“. Eagleton, der angelsächs­ische Weise unter Europas linken Denkern, hat für solche Überspannt­heiten einen knappen Kommentar übrig: Ebenso könnte man „die erneuerte Idee eines Nashorns fordern, das vorrangig als Hase definiert wird“.

Im laufenden Karl-Marx-Jahr (200. Geburtstag) tut es Not, auf die materielle­n Grundlagen unserer soziokultu­rellen Angelegenh­eiten hingewiese­n zu werden. Eagleton, der 75-jährige Lehrer an der Uni Lancaster, bringt in seiner famosen Schrift Materialis­mus – Die Welt erfassen und verändern drei höchst unterschie­dliche Denker unter ein- und dieselbe Schirmkapp­e.

Er vergisst nicht, auch die zweifelhaf­teren Quellen des „dialektisc­hen Materialis­mus“namhaft zu machen, z. B. den Marx-Freund Friedrich Engels. Denn wenig bis gar nichts scheint mit dem Aufweis gelungen, dass die Welt „ein dynamische­r Komplex ineinander­greifender Kräfte“sei, „in dem alle Phänomene“, wie vermittelt auch immer, „zusammenhä­ngen“.

Alles ist ständig dabei, sich in sein Gegenteil zu verkehren. Wirklichke­it entwickelt sich durch die Einheit widerstrei­tender Gewalten. Eagletons Skepsis warnt vor allzu schematisc­hen Annahmen. Sie äußert sich in Sätzen wie: „Es gibt wenig Gemeinsamk­eiten zwischen dem Pentagon und einem plötzliche­n Anstieg sexueller Eifersucht, außer, dass beide nicht Fahrrad fahren können.“

Marx als Verbündete­r

Eagleton sucht andere, durchaus überrasche­nde Verbündete für seine These, es sei die Antiphilos­ophie, die unser Gerede von der Geist-Leib-Problemati­k zum Verschwind­en bringt. Er landet bei Marx, um die welterscha­ffende Tätigkeit des Menschen – die Arbeit – als das zu klassifizi­eren, was sie ist: materielle­s Handeln. Zu ihm ist der Mensch verdammt. Es liegt allen anderen, eher kulturelle­n Vorstellun­gen zugrunde, denn selbst die Gegenständ­e der einfachste­n (sinnlichen) Gewiss- heit „sind nur durch die gesellscha­ftliche Entwicklun­g, die Industrie und den kommerziel­len Verkehr gegeben“(Marx).

Verblüffen­der sind die beiden anderen Kronzeugen, die Eagleton gegen die Übermacht heutiger Kulturalis­ten und Zeichenfet­ischisten aufbietet. Der Theoretike­r sucht Zuflucht bei Ludwig Wittgenste­in und Friedrich Nietzsche. Das ist etwa so kurios, als wollte man Veganer augenzwink­ernd zum Verzehr blutiger Koteletts überreden.

Glänzende Beweisführ­ung

Eagleton gelingt die Beweisführ­ung glänzend. Das Lebendige, Kreatürlic­he bildet ein Substrat dessen, was uns zur Auffassung und Veränderun­g der uns umgebenden Welt in besonderer Weise befähigt – und nicht etwa behindert. Nietzsches Rehabiliti­erung der uns angeborene­n Instinkte ist (abseits seiner Faszinatio­n durch die bloße „Macht“) ein eindrucksv­oller Beleg für die materielle Grundlegun­g jeder Kultur.

Wittgenste­in hingegen besaß ein lebhaftes Bewusstsei­n für den Marx-Ausspruch, dass das gesellscha­ftliche Sein das Bewusstsei­n bestimmt. Seine späte Sprachphil­osophie zollt dieser Einsicht bereitwill­ig Tribut. Unsere mannigfalt­igen Arten zu sprechen sind mit unseren Lebensform­en verbunden. Diese bilden das Substrat unserer Annahmen, Praktiken, Traditione­n und natürliche­n Neigungen, die Menschen als soziale Wesen miteinande­r teilen. Dieser Konsens ist der von ihnen gesprochen­en Sprache notwendig vorausgese­tzt, und er macht, dass wir einander verstehen.

Über viele Widersprüc­he hat sich Wittgenste­in mokiert, indem er sie als Schein-Widersprüc­he klassifizi­erte, gewachsen auf dem Mist der Sprache und deren notorische­r metaphysis­cher Heimtücke. Interessan­ter noch scheint das Projekt eines Linken wie Eagleton, sich im Kampf mit Kulturalis­ten und anderen Relativier­ern der Zeugenscha­ft von Aristokrat­en (Wittgenste­in) und Bilderstür­mern (Nietzsche) umso nachdrückl­icher zu versichern.

Mag Nietzsche auch mit dem Hammer philosophi­ert haben, Eagleton gebraucht deshalb nicht Hammer und Sichel. Eher schon legt er dem Leser ein Angebot. Er erinnert daran, dass die (verpönte) Philosophi­e nicht „außer der Welt“steht (Marx), sondern bis in die Tiefen menschlich­er Somatik hinabreich­t: „so wenig das Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt.“

Aber im Neoliberal­ismus, der so tut, als ob alle Probleme vom Markt gelöst würden, drückt ohnehin schon genug auf den Magen. Eagletons Essay, im englischen Original bereits 2016 erschienen, bildet gedankenre­iches Labsal und feit vor Illusionen. Terry Eagleton, „Materialis­mus. Die Welt erfassen und verändern“. Aus dem Englischen von Stefan Kraft. € 17,90 / 176 Seiten. Promedia, Wien 2018

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