Finnland hofft auf Forschungswunder
Nach dem Nokia-Niedergang schlitterte Finnland in die Krise. Nun setzt man auf Start-ups, eine große Portion Selbstbewusstsein und einen Umbau der Forschungslandschaft.
Wenn Finnland von etwas genug hat, ist das Wald. Selbst der Ballungsraum rund um Helsinki scheint zwischen Bäume gequetscht, unverrückbar verteidigen sie ihren Platz im Straßenbild. Da liegt es nahe, dass die Finnen ein Naheverhältnis zu Beeren hegen, die überall auf dem Waldboden wachsen. Und weil die Finnen auch ein besonderes Händchen für Innovatives für sich beanspruchen, verwundert es nicht, dass der Biotechnologe Lauri Reuter auf die Idee kam, Zellkulturen aus Preiselbeeren, Heidelbeeren sowie bei uns weniger bekannten Arktischen Brombeeren anzulegen. „Wir erforschen schon lange Pflanzenzellen für medizinische und kosmetische Zwecke“, sagt Reuter. „Nun wollen wir untersuchen, ob man sie auch als Nahrungsmittel einsetzen kann.“
Dazu hat Reuter, der am VTT, dem größten technischen Institut für angewandte Forschung Finnlands, arbeitet, einen Bioreaktor für den Hausgebrauch entwickelt. Das Gerät kann aus Beeren- und anderen Pflanzenzellen, die aus einem einfachen Blatt oder Samen gewonnen werden, Fruchtmarmelade herstellen – ohne dass dafür jemals eine tatsächliche Pflanze in der Erde Wurzeln geschlagen hätte. Die Zellen brauchen nicht mehr als eine Nährstofflösung. Portioniert wie eine Kaffeekapsel und mit Wasser aufgegossen, wächst innerhalb einer Woche genug Material für den nächsten Schritt: Verfeinert mit Zucker und Enzymen entsteht pure Marmelade aus Zellen, die ebenso wie die ganze Frucht Vitamine und Antioxidantien produzieren.
Große Visionen und Rankingmanie
Die Entwicklung ist zwar noch nicht als Lebensmittel zugelassen, Reuter hat aber ohnehin eine längerfristige Vision: „Die Nahrungsmittelproduktion ist eine enorme Bürde für die Umwelt. Geschlossene Systeme wie Bioreaktoren könnten irgendwann effizienter und umweltfreundlicher sein als die traditionelle Landwirtschaft.“
Große Visionen, die trifft man an allen Ecken und Enden im finnischen Espoo nahe Helsinki, wo sich auch der VTT-Standort befindet, an dem Lauri Reuter forscht. Davon konnte sich auch eine Delegation der Austrian Cooperative Research (ACR) überzeugen. Vertreter des KMU-Forschungsnetzwerkes, das u. a. durch das Wirtschaftsministerium unterstützt wird, besuchten Forschungseinrichtungen in Finnland, auch um Möglichkeiten für Kooperationen aus- zuloten. Espoo ist die Wiege der finnischen Start-up-Szene und beherbergt den Campus der Aalto-Universität genauso wie internationale Tech-Riesen. Hier findet jedes Jahr das Slush-Festival statt, mit bis zu 20.000 Teilnehmern der weltweit größte Start-upEvent.
Mit Superlativen wird nicht gespart: Die nachhaltigste, gebildetste, smarteste Stadt sei Espoo weit über Finnland hinaus, ein optimales Ökosystem, um die bahnbrechenden Ideen mit dem Big Business zusammenzubringen. Dem nicht genug: Finnland wurde unlängst im World Happiness Report zum neuen Spitzenreiter in Sachen Glück gekürt, nachdem das Ranking in den letzten Jahren von Dänemark, der Schweiz und Norwegen angeführt worden war, allesamt Nationen, die wie Finnland als Innovations- und Bildungsvorreiter gelten (siehe Grafik). Die Wahl zum glücklichsten Land der Welt hat wohl am meisten die Finnen selbst überrascht – sie gelten nicht gerade als emotional überaus extravertiert.
Das Happiness-High und die Rankingmanie haben wohl auch damit zu tun, dass sich Finnland mit einiger Kraftanstrengung aus dem Loch zog, das der Kahlschlag beim ehemaligen Mobilfunkriesen Nokia hinterlassen hatte. Bis 2011 war Nokia für etwa 20 Prozent der Exporte verantwortlich und brachte rund 40 Prozent der privaten Forschungsausgaben auf. Doch das Unternehmen verschlief den Anschluss an die Smartphone-Ära und wurde zum Großteil an Microsoft verkauft. 10.000 Menschen wurden entlassen, die Forschung abgedreht.
Der Zusammenbruch, der mit der Wirtschaftskrise zusammenfiel, riss das ganze Land mit, die Wirtschaftsleistung schrumpfte. Übrig blieb nur die Netzwerksparte von Nokia (die nach wie vor ihren Hauptsitz in Espoo hat) und ein Haufen Hightech-Arbeitslose. Viele ehemalige Nokia-Mitarbeiter machten sich mangels Alternativen selbstständig und brachten die Start-up-Welle, die an den Unis ihren Ausgang genommen hatte, so richtig ins Rollen.
„Die staatliche Forschungsförderung für das VTT sank im Vergleich zu 2011 um fast ein Viertel, es mussten 700 Mitarbeiter entlassen und einzelne Forschungsstandorte geschlossen werden“, berichtet Antti Vansara, Ex-Nokia-Manager und heute Chef von VTT, das mit knapp 2500 Mitarbeitern immer noch ein finnisches Forschungsflaggschiff ist. Während die Grundlagenforschung nur einen kleinen Einbruch erlitt, wurden die Ausgaben für angewandte Forschung drastisch gekürzt. Viele Unternehmen, die in Finnland traditionell stark an Forschungskooperativen beteiligt sind, zogen sich zurück, der Anteil privater Forschungsausgaben sank. Insgesamt schmolz die F&E-Quote von 3,75 Prozent des BIP 2009 auf 2,7 Prozent 2017 (in Österreich waren es 2017 3,16 Prozent).
Raus aus der mentalen Depression
„Es gab eine mentale Depression“, beschreibt Pekka Soinen das Nokia-Trauma. Soinen ist ebenfalls Ex-Nokia-Manager und leitet nun die größte Förderagentur für angewandte Forschung, Business Finland, die in Helsinki angesiedelt ist. „Die Einstellung hat sich aber geändert. Der einzige Weg, mit der digitalen Transformation mitzuhalten, ist, in Forschung und Entwicklung zu investieren.“Mittlerweile hat selbst der aktuelle Premierminister Juha Sipilä die Einschnitte als Fehler bezeichnet und Forschung und Innovation zur Chefsache erklärt. Die Regierung ist es auch, die das neue Credo vorgibt: Bis 2025 sollen die F&E-Ausgaben von Klein- und Mittelbetrieben sowie die Exporte verdoppelt werden. 2030 soll Finnland die „attraktivste, kompetenteste Umgebung für Experimente und Innovation“sein.
Der angepeilte Aufstieg nach den Krisenjahren macht sich nun in einem Umbau der gesamten Forschungslandschaft in Richtung Zentralisierung und Konzentration bemerkbar. Zuletzt wurde die Förderagentur für angewandte Forschung mit den Agenden für Tourismus, Export und Investitionen unter dem Dach von Business Finland fusioniert – Stichwort One-Stop-Shop. In den kommenden Jahren soll die Zahl der Unis (aktuell 14) auf die Hälfte reduziert werden.
Von dem Selbstbewusstsein und dem Optimismus der Finnen, mit dem sie die Krise als Chance begriffen, könnte sich auch Österreich einiges abschauen, befand ACRPräsident Martin Leitl. Auch die Straffung der Strukturen und die Vereinfachung des Fördersystems – in Österreich immer wieder debattiert – erachtete man als vorbildhaft: „Eine Zusammenlegung der Forschungsförderungsagentur FFG und der Förderbank AWS wäre für die Unternehmen sehr wichtig“, sagte ACR-Geschäftsführer Johann Jäger. „Wir sind noch weit von einem OneStop-Shop entfernt.“Die Reise erfolgte auf Einladung der Austrian Cooperative Research (ACR).