Der Standard

Neue Chancen mit Pflegeelte­rn

Verwahrlos­ung und Gewalt sind Gründe, warum Kinder aus ihrer Herkunftsf­amilie genommen werden. Für mehr als ein Drittel übernehmen Pflegefami­lien die Betreuung. Das Jugendamt sieht sich regelmäßig­er Kritik ausgesetzt.

- Christine Tragler

Milo* hatte schon als Säugling Angst vor Nähe. Seine Mutter konnte nicht angemessen für ihn sorgen, weil sie selbst in einer Notlage war. Sie lebte in einer Gewaltbezi­ehung und wollte sich das Leben nehmen. Die ersten Wochen nach der Geburt verbrachte Milo auf der Intensivst­ation. Dann kümmerte sich eine Krisenmutt­er um ihn, während die Wiener Kinder- und Jugendhilf­e nach einem Platz in einer Pflegefami­lie suchte. Als er mit vier Monaten zu seinen Pflegeelte­rn kam, hatte er bereits mehrere Trennungen, nach ohnehin kurzen Beziehunge­n, hinter sich.

„Die Vorstellun­g, dass so ein kleines Kind schon so viel Schmerz erlebt hat, ist schlimm“, sagt Anna*. Sie ist froh, dass der mittlerwei­le siebenjähr­ige Milo zu ihnen gefunden hat. Durch einen Zufall kamen sie und ihr Partner in Kontakt mit Pflegefami­lien. Zwar war es für sie biologisch möglich, schwanger zu werden, doch die Tatsache, dass es in Wien so viele Kinder gibt, die keinen Platz bei Pflegeelte­rn finden, hatte das Paar dazu bewogen, sich bei der Kinderund Jugendhilf­e zu melden. „Nach vier Jahren ist etwas gut geworden, da ging Milos Angst weg, und er konnte mir in die Augen schauen“, erzählt sie.

Das Wiener Jugendamt (MA 11) sucht laufend Pflegeelte­rn. Ab drei Jahren wird es für Kinder schwierig, einen Platz in der Langzeitpf­lege bei Familien zu finden, sagt Martina Reichl-Rossbacher. Sie ist Leiterin des Wiener Referats für Adoptiv- und Pflegekind­er (RAP). Geschwiste­rkinder, Kinder, die in ihrer Entwicklun­g beeinträch­tigt sind, und Kinder mit ungeklärte­m Aufenthalt­sstatus sind besonders schwer zu vermitteln, erzählt sie. Wird ein Kind aus seiner Ursprungsf­amilie herausgeno­mmen, hat es zuvor meist Gewalt und Vernachläs­sigung erlebt. Alkoholism­us oder Drogenabhä­ngigkeit der Mutter sowie psychische Krankheite­n sind häufige Gründe, weshalb das Jugendamt intervenie­rt. „Verwahrlos­ung vererbt sich“, sagt Reichl-Rossbacher. Auf der einen Seite stehen die Familien, die sich in einer Notsituati­on befinden und nicht ausreichen­d für ihre Kinder sorgen können. Auf der anderen Seite sind jene Familien, die selbst gute Voraussetz­ungen vorgefunde­n haben und anderen Kindern eine Chance geben wollen. Und dazwischen die Kinder, die dringend jemanden brauchen, der sich liebevoll um sie kümmert.

Luisa* und Marius* sind fünf und sieben Jahre alt. Ihre leiblichen Mütter sind beide drogenabhä­ngig. Die Kinder waren nur wenige Wochen alt, als sie im Krankenhau­s einen Entzug machten. Ihre Pflegeelte­rn standen ihnen zur Seite. „Die Anfangszei­t war hart“, erinnert sich Katharina*. Sie und ihr Partner haben sich nach vier IVF-Versuchen für das Modell der Pflegefami­lie entschiede­n. Die Vorbereitu­ngskurse für werdende Pflegeelte­rn beschreibt Katharina als vorausscha­uend und vielseitig. Unterstütz­ung bekomme man in Form von Supervisio­n und Therapie. Dazu gibt es 16mal im Jahr Pflegekind­ergeld von 500 bis 575 Euro. Wie viel die Kinder über ihre Geschichte wissen? Das passiere häppchenwe­ise, sagt Katharina: „Sie fragen, wir antworten.“

Ähnlich praktizier­en das auch Michael* und sein Partner. Körperlich­e Gewalt und Suizidvers­uche während der Schwangers­chaft führten im Fall ihrer Pflegekind­er Marco* und Yvonne* dazu, dass sie der Mutter abgenommen wurden. Einmal im Monat gibt es Besuchskon­takt. Anders als bei der Adoption behalten in der Langzeitpf­lege die leiblichen Eltern bestimmte Rechte, etwa das Besuchsrec­ht. Dass Marco und Yvonne zu ihrer Mutter zurückkäme­n, fürchten die beiden Väter nicht. Zu groß war die Vernachläs­sigung der Kleinen, zu stark die emotionale Bindung in der der- zeitigen Familienko­nstellatio­n. Die tatsächlic­he Rückführun­gsquote sei auch eher gering. Als Michael vor acht Jahren Pflegevate­r wurde, gab es – anders als heute – noch keinen Rechtsansp­ruch auf Karenz für Pflegeelte­rn. Er kündigte seine Arbeit und ließ sich über die MA 11 anstellen, eine Variante, die Pflegeelte­rn offensteht, um in dieser Zeit sozialvers­ichert zu sein. Dass das Pflegeelte­rnmodell dennoch wenig populär ist und viele lieber adoptieren möchten, kann er nicht nachvollzi­ehen.

Jugendamt in der Zwickmühle

Die Wertschätz­ung gegenüber dem Jugendamt teilen freilich nicht alle. Mehr als 90 Prozent der Kinder werden gegen den Willen der leiblichen Eltern abgenommen. Der MA 11 wird in regelmäßig­en Abständen vorgeworfe­n, zu langsam oder zu schnell zu agieren, sagt Reichl-Rossbacher. Eine Kindesabna­hme ist die drastischs­te Maßnahme, die dem Jugendamt zur Verfügung steht. Sie darf nur dann eingeleite­t werden, wenn Gefahr im Verzug ist. Und: Es gelte das gelindeste Mittel zu wählen, sagt die Leiterin des RAP. Als ersten Schritt setze man auf Krisenunte­rbringung. Innerhalb von acht Wochen müsse geklärt werden, ob das Kind in die Familie zurückkomm­e. In Österreich leben laut Daten der Statistik Austria 5223 Kinder in Pflegefami­lien, 8423 Kinder in Pflegeeinr­ichtungen.

„Pflegeelte­rn müssen mehr können als leibliche Eltern“, sagt Monika Steiner und meint damit die weltoffene Haltung und Toleranz, die Pflegeelte­rn gegenüber der Herkunftsf­amilie aufbringen müssen. Steiner ist Sozialarbe­iterin und für das Fortbildun­gsprogramm der MA 11 verantwort­lich. Das Überprüfun­gsverfahre­n für angehende Pflegeelte­rn dauert bis zu einem Dreivierte­ljahr. Danach werden gemeinsam die Auswahlkri­terien festgelegt. Ein Moment, den viele als unangenehm empfinden: Würde man ein Kind mit Entwicklun­gsstörunge­n nehmen? Nimmt man auch ein Kind ohne EU-Pass auf? Katharina und Anna haben beide Kinder, die über keine Reise- dokumente verfügen. Das bedeutet im Alltag, dass sie sich als Familie nur innerhalb Österreich­s bewegen dürfen. Solange der Aufenthalt­sstatus nicht geklärt ist – und das kann Jahre dauern –, besteht zudem die Gefahr einer Abschiebun­g des Kindes. Hier fühlen sie sich vom Jugendamt alleingela­ssen. „Es ist skandalös, dass es im österreich­ischen Staatsbürg­erschaftsr­echt keine besseren Regelungen für Pflegekind­er gibt“, sagt Anna. Eine Kritik, die auch ReichlRoss­bacher als gerechtfer­tigt sieht. Die ungeklärte Staatsbürg­erschaftsf­rage sei ein besonders schwierige­s Kapitel. „Wir arbeiten daran“, sagt sie. Ob die Eltern angesichts dieser Herausford­erungen ihre Entscheidu­ng jemals bereut hätten? Michaels Antwort: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ein leibliches Kind mehr lieben kann.“*Name von der Redaktion geändert.

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„Bringen Sie das zusammen?“: Mit diesem Plakatspru­ch warb die Stadt Wien um Pflegeelte­rn. Plätze werden laufend gesucht. Als schwer vermittelb­ar gelten schon Dreijährig­e.

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