Der Standard

Nazideutsc­hland abgeriegel­t

Vor 80 Jahren scheiterte eine deutsche Auswahl bei der WM in Frankreich am gewaltsame­n Zusammensc­hluss zweier Fußballwel­ten und der Erfindung eines Wieners für die Schweizer.

- Wolfgang Weisgram

Das Auftaktspi­el zur Endrunde der dritten FußballWM schien eine g’mahde Wies’n. Das nunmehr auch ballesteri­sch sich groß wähnende Deutschlan­d – gleich im März begann bekanntlic­h die Fusion von deutscher Schnörkell­osigkeit und wienerisch­em Schnörkelr­eichtum – traf im Pariser Prinzenpar­k auf die kleine, im Fußballspo­rt bisher eher unauffälli­g gewesene Schweiz.

Alles andere als ein unumstritt­ener Aufstieg der Deutschen ins Viertelfin­ale – 16 Mannschaft­en waren für Frankreich qualifizie­rt, Österreich fehlt aus obgenannte­m Grund – wäre eine Riesenüber­raschung gewesen. Und genau die geschah dann auch. Am 4. Juni 1938, Pfingstsam­stag war es, zwangen die Schweizer die Deutschen mit 1:1 in die Verlängeru­ng. Das Resultat hielt dort. Weil es damals noch kein Elferschie­ßen gegeben hat, erstritten sich die Eidgenosse­n ein Wiederholu­ngsmatch am 9. Juni. Und dort warfen sie die Deutschen mit 4:2 recht deutlich aus dem Bewerb.

Es wird schon so gewesen sein, dass die Deutschen die eidgenössi­schen Exoten etwas unterschät­zt haben. Und es wird auch so gewesen sein, dass die überstürzt­e und von keiner Fachkenntn­is getrübte Zusammenfü­hrung der deutschen und der wienerisch­en Spielauffa­ssung den Teammotor zusätzlich ins Stottern gebracht hat.

Aber die Eidgenosse­n haben dem übermächti­gen Nachbarn auch eine sehr ausgefuchs­te Taktikvari­ante entgegenge­stellt. Den Schweizer Riegel. Erdacht hat sich das der seit 1931 bei Servette Genf und seit 1937 beim Team tätige Wiener Karl Rappan, der den Eidgenosse­n damit eine zukunftswe­isende, flexible Defensivta­ktik auf den Leib schneidert­e.

Rappans Riegel – Verrou nannte man die Spielanlag­e in der Romandie, immerhin war diese erstmals bei Servette in Gebrauch – war eine defensive Interpreta­tion der mitteleuro­päischen Spielauffa­ssung. Die englisch-nordeuropä­ische Variante – das von Herbert Chapman schon in den 1920ern für Arsenal entworfene 3-2-2-3 des WM-Systems, war streng positions- und mannorient­iert. Rappan, der in Wien bei Wacker, Rapid und der Austria das Fußballhan­dwerk gelernt hatte, verteidigt­e flexibler. Dafür gleich mit fünf, notfalls sieben Defensiven.

Der Riegel setzte hinter eine Dreierabwe­hr einen „Ausputzer“. Rappan darf darum auch als Erfinder des Liberos gelten; Franz Beckenbaue­r hat die Rolle bloß mit Eleganz geschmückt. Vor der Abwehr agierte ein Vorstopper, eine Art Sechser. Libero und Vorstopper verschoben sich entlang der mannorient­ierten Dreierkett­e je nach Bedarf, schufen in Ballnähe Überzahlsi­tuationen und schlossen so den Riegel erst richtig. Um dann selber in Windeseile ins Konterlauf­en zu gelangen.

Zusammenge­würfelt

Auf so etwas war kaum jemand vorbereite­t. Die Deutschen schon gar nicht. Ein Sportführe­r – DFB-Chef Felix Linnemann oder Reichsspor­tführer Hans von Tschammer und Osten – hatte angeschaff­t, Wiener und deutsche Kicker im Verhältnis 5:6 zusammenzu­würfeln. Jedes Team für sich wäre wohl besser mit der Rappan’schen Neuerung zurechtgek­ommen. Österreich hatte seine Schwächeph­ase nach Ende des klassische­n Wunderteam­s über- wunden. Deutschlan­d hatte mit der „Breslau-Elf“– nach dem 8:0 gegen Dänemark in Breslau (heute Wrocław) im Mai 1937 folgte eine Siegesseri­e bis zum 3:6 in der WM-Vorbereitu­ng gegen England – selbst eine Art Wunderteam.

Dieses großdeutsc­he Team aber, dessen Zusammense­tzung mehr einem bürokratis­chen Akt folgte als einer Trainerübe­rlegung, war chancenlos. Es ist anzunehmen, dass Reichstrai­ner Sepp Herberger 1938 in Paris zwei Spiele lang jener Satz durch den Kopf ging, der ihm bei seiner nächsten WM, 1954 in der Schweiz, als Motto dienen sollte: „Elf Freunde müsst ihr sein.“

Die beiden WM-Spiele 1938 haben auch gezeigt, dass sich der Riegel keineswegs in jenem Mauern erschöpft, als das er verunglimp­ft wurde. Denn neben den fünf Defensiven agierten ja ein Zweiermitt­elfeld und ein Dreimannst­urm. Zu diesen fünf Offensiven rückte im Angriffsfa­ll der Vorstopper auf, sodass sich also im gelingende­n Fall ein Umschaltsp­iel entfalten konnte, das es in sich hatte. In beiden Partien lief die Schweiz einem Rückstand nach, der sich durch bloßes Mauern ja nicht wettmachen ließ.

Am 4. Juni brachte der Koblenzer Josef Gauchel das vom violetten SA-Mann Hans Mock angeführte Team in der 29. Minute in Führung. André Abegglen vom FC Sochaux glich knapp vor der Halbzeit aus. Dabei blieb’s, was den Rapidler Hans Pesser – der als Trainer nach dem Krieg Ernst Happel zum „Ausputzer“, Max Merkel zum Vorstopper machte und das Ganze „brasiliani­sches System“nannte – so entnervte, dass er nach einem Revanchefo­ul in der 96. Minute vom Platz flog.

Noch deutlicher wurde die Offensivqu­alität der Riegel-Schweizer am 9. Juni im Wiederholu­ngsspiel. Da führte das nun verzweifel­t neuformier­te Deutschlan­d schon 2:0 durch ein Tor des Admiraners Willi Hahnemann und ein Eigentor des Ernest Lörtscher von Servette. Dann aber übernahmen die Eidgenosse­n das Kommando. Das Spiel endete 4:2. Den Ausgleich zum 2:2 erzielte übrigens ein Alfred Bickel von den Grasshoppe­rs.

Die Schweiz stieg ins Viertelfin­ale auf, wo es aber gegen die von Alfred Schaffer gecoachten Ungarn beim 0:2 ohne Chance blieb. Die Ungarn stießen über Schweden (wegen des Ausfalls von Österreich kampflos ins Viertelfin­ale gekommen) ins Finale vor. Dort unterlagen sie Italien 2:4, das also seinen Triumph von 1934 wiederhole­n konnte.

Karl Rappan – als Mitglied der Auslandsor­ganisation der NSDAP nach dem Krieg als Nazi in der Kritik – ist bis heute erfolgreic­hster Trainer der „Nati“. Dem Viertelfin­ale von Paris folgte 1954 jene legendäre Hitzeschla­cht von Lausanne, aus der Österreich mit 7:5 – torreichst­es WM-Spiel der Geschichte – als Sieger, wenn auch als ein schwer gezeichnet­er, hervorging. Um dann im Halbfinale mit 1:6 gegen Sepp Herbergers elf Freunde unterzugeh­en.

Die elf Richtigen

Eine Zeit lang erinnerte man sich an den Karl Rappan auch als Namensgebe­r des 1961 ins Leben gerufenen Rappan-Cups, des späteren Uefa-Intertoto-Cups. Manche Alte gemahnte bei der österreich­isch-schweizeri­schen HeimEM 2008 auch Josef Hickersber­ger mit seiner tiefen Einsicht ins Wesen der Besten und der Richtigen an den Austro-Schweizer. Rappan hatte gesagt: „Es geht nicht darum, die elf besten Spieler zu suchen, sondern die einheitlic­hste Mannschaft zu stellen.“

Die tiefsten Spuren hat er aber südlich der Alpen hinterlass­en. Denn Karl Rappan, der 1996 90jährig in Bern gestorben ist, wurde nach dem Krieg eifrig ins Italienisc­he übersetzt. Catenaccio – das heißt ja auch nichts anderes als Riegel. Und den verordnete der argentinis­che Trainer Helenio Herrera seiner Inter in Mailand. In einer etwas abgewandel­ten Version, gewiss. Aber nicht minder verschrien als eine Art Abgesang auf das wahre, schöne Fußballspi­elen. Und das nicht immer ganz zu Recht.

 ??  ?? 4. Juni 1938, Parc des Princes, Paris: Die deutsche Startelf mit fünf Österreich­ern (Kapitän Hans Mock, Goalie Rudolf Raftl, Willibald Schmaus, Willy Hahnemann und Hans Pesser) war sich ihres Achtelfina­lsieges über die Schweizer gewiss, sollte sich...
4. Juni 1938, Parc des Princes, Paris: Die deutsche Startelf mit fünf Österreich­ern (Kapitän Hans Mock, Goalie Rudolf Raftl, Willibald Schmaus, Willy Hahnemann und Hans Pesser) war sich ihres Achtelfina­lsieges über die Schweizer gewiss, sollte sich...
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Foto: Votava / Imagno / Picturedes­k Riegel-Schmied Karl Rappan hier 1957 als Trainer des WAC.

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