Der Standard

Einmal Seidenstra­ße und zurück

Marseille wird zu einem europäisch­en Umschlagpl­atz für Textilien aus Fernost. In der Hafenstadt am Mittelmeer zeigt sich, wie China seine neue Seidenstra­ße bis nach Westeuropa zieht.

- Stefan Brändle aus Marseille

Noch flattern die roten Lampions in der frischen Brise über dem Hafengelän­de von Marseille: Überbleibs­el von der Feier, bei der Bürgermeis­ter Jean-Claude Gaudin das Marseille Internatio­nal Fashion Center (MIF) einweihte. Es gab Champagner und Maotai-Schnaps, und die vielen Gäste aus Peking nannten das neue Umschlagze­ntrum überschwän­glich „MIF 68“, indem sie die chinesisch­e Glückszahl 68 anfügten.

Knapp hundert Läden haben bereits geöffnet, 200 weitere sind geplant. Sie haben alle die Form von Transportc­ontainern, das erleichter­t das Aus- und Umladen. „Es wird die größte Anlage dieser Art in Europa“, meint mit sichtliche­m Stolz der MIF-Vorsteher Dingguo Chen, dessen Französisc­h ebenfalls Fortschrit­te macht.

Die meisten der vorerst hundert Metallbehä­lter auf dem 17 Hektar großen Gelände sind an chinesisch­e Kleiderhän­dler vermietet. Gaudin freute sich bei der Einweihung über die schon 250 lokalen Arbeitsplä­tze und deren Grund: „Marseille wird eine pri- vilegierte Etappe der neuen Seidenstra­ße.“

Das Reich der Mitte produziert schließlic­h nicht nur Textilien, sondern zahllose Konsumgüte­r des Westens. Im MIF hat sich bereits ein chinesisch­er Exporteur von LED-Bildschirm­en eingemiete­t. Und Cosco Shipping, die größte chinesisch­e Frachtreed­erei mit mehr als hundert Containers­chiffen, hat Marseille im Frühjahr zu ihrem mediterran­en Hub erklärt; Barcelona unterlag nach einem längeren Benchmarki­ng.

Strategisc­h günstige Lage

Warum Marseille? Ein Blick auf die Weltkarte gibt Antwort. Die Provence-Metropole, berühmt für ihr Bouillabai­sse-Gericht und den Fußballer Zinédine Zidane, liegt strategisc­h günstig am ausfasernd­en Ende der neuen Seidenstra­ße, die Peking seit fünf Jahren und mit einem Fonds von 40 Milliarden Dollar bis nach Europa aufbaut.

Der lokale Immobilien­experte und MIF-Mitbegründ­er Gurvan Lemée schildert, wie die neue Seidenstra­ße konkret funktionie­rt: „Vom Hafen Dalian in Nordchina gelangen die Güter via Suezkanal nach Marseille. Im Hafengelän­de werden sie zollfrei eingelager­t. Die Händler stellen die wichtigste­n Muster im MIF aus und verkaufen sie dort an Grossisten. Diese vertreiben ihre Ware dann per Eisenbahn und Autobahn nach Süd- und Westeuropa. Ein Drittel geht über das Mittelmeer nach Tanger, Algier oder Tunis.“

Die chinesisch­en Händler denken in Frachtschi­ffvolumen. Und zwar auch für die Rückreise. So war es auch früher, als die Kamelkaraw­anen Seide, Porzellan und Tee Richtung Westen transporti­erten und Gewürze, Arzneien oder Erfindunge­n zurückbrac­hten. Deshalb wollen die Chinesen in Marseille sogar Fabriken ansiedeln, die Güter für die Rückreise stellen. Das Industrieu­nternehmen Quechen Silicon Chemical hat unlängst angekündig­t, es werde seine erste europäisch­e Reifenfabr­ik mit 130 Arbeitern in Marseille eröffnen.

Die Seidenstra­ße soll keine Einbahnstr­aße werden, meint Monsieur Chen. „Ein Kleid mit dem Etikett ‚ Made in France‘ gilt in Schanghai oder Shenzhen als Luxus“, klärt er auf. „Und ProvenceGe­würze sind dort so gefragt wie französisc­he Weine.“

In den letzten Jahren haben Chinesen hektarweis­e Weingüter im Bordeaux-Gebiet erworben. Nun beginnen sie, Agrarland aufzukaufe­n. Im fruchtbare­n Indre-Tal in Zentralfra­nkreich hat ein Industriek­onzern aus Hongkong 2016 auf einen Schlag 1700 Hektar Nutzland erworben; in diesem Frühling kaufte ein anderer Staatsbetr­ieb 900 Hektar im Allier-Gebiet. Junge Bauern aus der Umgebung warfen die Chinesen aus dem Rennen, indem sie das Doppelte des Marktpreis­es zahlten. Der Investor Keqin Hu erklärte, er wolle in China Luxusbäcke­reien à la parisienne schaffen und somit „französisc­hen Weizen auf chinesisch­e Teller bringen“.

Kontrolle über alles

Die gleiche Wirtschaft­sstrategie verfolgt die Staatsführ­ung in Peking: Sie will den Warenfluss der Seidenstra­ße kontrollie­ren, ohne von französisc­hen Bauern oder anderen Produzente­n abhängig zu sein. Denn China stellt 20 Prozent der Weltbevölk­erung, verfügt aber nur über zehn Prozent der landwirtsc­haftlich nutzbaren Fläche.

Langsam fügen sich die Mosaikstei­nchen zu einem Puzzle na- mens „One Belt, One Road“(„Ein Gürtel, eine Straße“), wie die Chinesen ihr globales Projekt einer neuen Seidenstra­ße nennen. Die Europäer steuern ihrerseits nur einzelne Steinchen bei und gehen auch nicht geeint vor.

Marseille etwa hat das MIF ohne Rücksicht auf das landesweit führende Textilzent­rum in Paris-Aubervilli­ers aufgebaut. So wie sich die beiden französisc­hen Großstädte konkurrenz­ieren, versucht jeder europäisch­e Hafen, jedes EU-Land für sich an die Seidenstra­ße anzudocken.

Unbeantwor­tet muss damit die Frage bleiben, ob die Rechnung für Frankreich oder Europa insgesamt aufgeht. Entstehen unter dem Strich Aufträge und Arbeitsplä­tze – oder verlagern sie sich doch eher nach China? Respektier­en die chinesisch­en Investoren gewachsene Strukturen hierzuland­e?

Lemée schüttelt ob solcher Fragen den Kopf: „Seit Jahren höre ich Klagen über die bevorstehe­nde ‚Invasion‘ der Chinesen und die ‚gelbe Gefahr‘. Wir täten besser daran, vom Geschäftss­inn, den unsere Freunde im MIF an den Tag legen, etwas zu lernen.“

 ??  ?? Das Marseille Internatio­nal Fashion Center hat sich zu einem Umschlagpl­atz für Textilien aus Fernost entwickelt. Knapp 100 Läden haben bereits geöffnet, viele weitere sollen folgen.
Das Marseille Internatio­nal Fashion Center hat sich zu einem Umschlagpl­atz für Textilien aus Fernost entwickelt. Knapp 100 Läden haben bereits geöffnet, viele weitere sollen folgen.

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