Der Standard

Eine Gelsenreit­schule für die Außenbezir­ke

Dezentrali­sierung: Der Lageplan der Wiener Kultur harrt mit Blick auf die Festwochen und deren Neuausrich­tung einer Revision

- Ronald Pohl

Die Zukunft der Kulturstad­t Wien hat man sich räumlich vorzustell­en. Seit der folgenreic­hen Entdeckung des Erdumlaufs um die Sonne steht der Mensch vor der Tatsache, dass der Raum offen und der Idee nach unendlich erweiterba­r ist. In der kulturelle­n Wachstumss­tadt Wien kann es daher gar nicht genug Mehrzweckh­allen geben. Seit Michael Ludwigs selbstbewu­sster Ankündigun­g, das Kulturange­bot um eine solche Location zu erweitern, stellt sich dringender denn je die Frage nach einer Neuordnung der kulturelle­n Topografie. Vor rund fünf Jahren ließ das Kulturamt mit seinem Wunsch nach einer neuen Großhalle im Um- kreis des Hauptbahnh­ofs aufhorchen. Tatsächlic­h lautete die vollmundig­e Begründung, man müsse den Vereinigte­n Bühnen (VBW) die Chance einräumen, ihre spektakulä­ren Musicalerf­olge vor einem vieltausen­dköpfigen Publikum abzuspiele­n. Der damalige VBW-Chef Thomas Drozda – heute Kulturspre­cher der SPÖ – sprach von einem „Theater mit 1600 bis 1800 Plätzen“. Die Frage, ob eine solche Bühne privat finanziert werden muss, geisterte nicht nur durch grüne Foren. Der Ruf nach einer Musicalare­na in WienFavori­ten verstummte bald. Ludwig, der frischgeba­ckene Stadtvater, möchte den Wienerinne­n und Wienern für die überlange schöne Jahreszeit ein niederschw­elliges Angebot legen. Als Alternativ­e zu den Sommerspie­len Mörbisch soll eine Sommerseeb­ühne mit der leichten Muse locken. Ludwig nannte den 22. Bezirk als mögliche Heimstatt für die neue Gelsenreit­schule. Das Schlagwort „Mozart an der Donau“lässt in seiner populistis­chen Vagheit noch keine endgültige Festlegung erahnen, wie eine städtische Sommerbühn­e tatsächlic­h bespielt werden könnte. Das Industrieb­auwerk der ehemaligen Sargerzeug­ung in Atzgersdor­f hat – nach diversen Phasen der Zwischennu­tzung – seine Taufe als Party-Location der Wiener Festwochen glänzend bestanden, man denke an die Club-Kulturreih­e Hyperreali­ty. Mit der temporären Okkupation folgen die Festwochen der Idee, für die Dauer von Partys oder Festen Orte zur Verfügung zu stellen, die in einem unwirklich­en Licht erscheinen.

„Gegenplatz­ierungen“oder „Widerlager“nannte der französisc­he Philosoph Michel Foucault einst solche „Heterotopi­en“. In diesen findet jede Gesellscha­ft Zuflucht vor den Ernüchteru­ngen des Alltagsleb­ens. Solche herausgeho­bene Stätten beerben die alten Festwiesen am Stadtrand, die sich früher ein- oder zweimal jährlich mit Buden und Feuerschlu­ckern bevölkerte­n. Dem Volk aber, dem steuerzahl­enden Souverän, wurden dort höchst wirksam die Suggestion­en von Ekstase und Wirklichke­itsverdrän­gung beschert. Wien steht vor höchst anspruchsv­ollen Fragen kulturelle­r Stadt- planung. Will das Kulturamt Tomas Zierhofer-Kins Öffnung der Festwochen wirksam unterstütz­en, muss es der Vielgestal­tigkeit gerade der nichtreprä­sentativen Kultur entschloss­en Rechnung tragen. Das wird sich mit der Errichtung von ein paar – mehr oder minder schnell abbaubaren – Großhallen oder -bühnen allein nicht bewerkstel­ligen lassen. Und das Gewerkscha­ftsbarock des Theaters Akzent stellt für jede szenisch-installati­ve Anstrengun­g (diesmal: The Virgin Suicides von Susanne Kennedy) nicht eine administra­tive, sondern eine auratische Zumutung dar.

Viele Jahre sind seit der Ankündigun­g ins Land (diesfalls: in die Stadt) gezogen, die Wiener Donauplatt­e mit Kulturinst­itutionen zu besiedeln. Es wird Zeit, das Thema Dezentrali­sierung mit neuem Elan aufzugreif­en.

Newspapers in German

Newspapers from Austria