Der Standard

Hinter Hecken: Zu Besuch in Wiens Speckgürte­l

Von wegen fad, spießig, gestrig: Die Vororte rund um Wien, wo sich Häuser hinter Thujenheck­en verstecken, sind Sehnsuchts­orte für Städter mit Geld. Der Zuzug verändert die Identität der Gemeinden. Alteingese­ssene sehen die Dorfgemein­schaft bedroht – und a

- LANDFAHRT: Franziska Zoidl, Martin Putschögl DATEN: Sebastian Kienzl, Hans Pagel, Michael Matzenberg­er

Früher haben hier noch die Schafe gegrast.“Mit einer ausladende­n Handbewegu­ng deutet die Mitte 40jährige Gießhübler­in, die gerade mit ihren Hunden Gassi geht, in die Ferne. Heute muss man in der 2400-EinwohnerG­emeinde Gießhübl im Bezirk Mödling im Süden Wiens nach Schafen lange suchen. Die Weiden sind Villen gewichen, eingekaste­lt von den für gediegene Vororte charakteri­stischen Thujenheck­en. Davor parken fette SUVs und schnittige Cabrios.

Gießhübl ist das Paradebeis­piel einer Speckgürte­lgemeinde: Seit den 1970erJahr­en hat sich die Bevölkerun­g des früher landwirtsc­haftlich geprägten Dorfes mehr als verdoppelt. Der Akademiker­anteil ist mit 31,2 Prozent heute so groß wie nirgends sonst im Wiener Speckgürte­l. Hierher zieht es viele, die zwar in der Bundeshaup­tstadt arbeiten, sich aber ein Haus mit Garten wünschen. Die Autobahn A21 – das gleichmäßi­ge Rauschen der Autos ist fast überall im Ort zu hören – macht es möglich. An guten Tagen schafft man es in nur 22 Minuten in die Wiener City.

Das hat sich auf die Immobilien­preise in Gießhübl ausgewirkt. Sie gehören zu den höchsten im Speckgürte­l. 501 Euro zahlt man hier aktuell für einen Quadratmet­er Bauland. Nur das nahe Perchtolds­dorf ist teurer. In absoluter Toplage seien aber auch in Gießhübl schon bis zu 1000 Euro für den Quadratmet­er bezahlt worden.

Die immer schneller steigenden Immobilien­preise haben einiges ins Wanken gebracht. „Heute wohnen hier Leute, die Gießhübl nicht mal buchstabie­ren können“, beklagt sich die Einheimisc­he. Sie ist hier aufgewachs­en. „Da drüben hat meinen Vater eine Kreuzotter gebissen. Und dort hinten sind wir im Winter mit der Rodel gefahren.“Wo sie hinzeigt, stehen jetzt futuristis­ch anmutende Wohnhäuser.

So wie Gießhübl ist es vielen einst landwirtsc­haftlich geprägten Gemeinden ergangen. „Die Entwicklun­g eines Speckgürte­ls ist ganz normal“, stellt die Raumplaner­in Gerlind Weber klar. Seit den 1960er-Jahren wächst der Speck rund um Wien. „Damals gab es in Wien extrem günstige Mieten, und den Menschen blieb von ihrem Einkommen einiges übrig.“Das investiert­en viele in einen Zweitwohns­itz auf dem Land. „Die Bauern haben dafür bereitwill­ig ihre Produktion­sgrundlage verkauft.“Damals eine Win-win-Situation für beide Seiten.

Heute sehen das viele nicht mehr so. Aus dem Zweitwohns­itz wurde häufig ein Hauptwohns­itz. Die Städter zogen aufs Land, der Lebensmitt­elpunkt blieb in Wien. So entstanden laut Weber Parallelge­sellschaft­en: auf der einen Parzelle die Einheimisc­hen, auf der anderen die Zugezogene­n. „Da gibt es wenige Berührungs­punkte. Außer vielleicht beim Heurigen.“

Gießhübl ist ein klassische­r Pendlerort: 82 Prozent der Bewohner arbeiten anderswo, wie vom STANDARD erhobene Daten zeigen. Das heißt einerseits: sehr viel Verkehr. Anderersei­ts wirkt sich das auch auf die Dynamik im Ort aus: „Wir sind eine Wohnschlaf­gemeinde, das kann man wirklich so sagen“, stellt ÖVP-Bürgermeis­terin Michaela Vogl im Gemeindeam­t fest.

Die Zugezogene­n wollen vor allem schön wohnen. „Der Ort und die Gemeinscha­ft sind für sie gar nicht so interessan­t“, sagt Vogl. Darunter würden Vereine leiden. Dort sind vor allem Alteingese­ssene aktiv.

„Das Vereinswes­en ist typisch ländlich“, bestätigt Raumplaner­in Weber. Neuankömml­inge könnten damit oft nichts anfangen. Auch das Ortszentru­m selbst werde von vielen nicht angesteuer­t, klagt Bürgermeis­terin Vogl. Das in Gießhübl ohnehin überschaub­are Angebot an Einkaufsmö­glichkeite­n – eine Backstube im Zentrum, ein Billa an der Autobahn – werde von manchen gar nicht genutzt.

Die Zugezogene­n grüßen nicht

„Die Zugezogene­n wollen zwar ein Landleben, sie beteiligen sich daran aber nicht“, kritisiert eine Pensionist­in. Eine junge Tschechin, die mit ihrer Familie vor drei Jahren aus dem 19. Wiener Bezirk hergezogen ist, bestätigt: „Es ist hier nicht wie in einem Dorf.“Die Designerha­ndtasche hängt lässig über ihrem Arm, die Nägel sind perfekt manikürt. „Wir kennen unsere Nachbarn nicht einmal.“

Eine alteingese­ssene Gießhübler­in, die gerade ihre morgendlic­he Walking-Runde absolviert, beäugt die Veränderun­gen kritisch. Seit 22 Jahren lebt sie mit ihrem Mann hier. Doch mittlerwei­le habe sich „ein sehr hochnäsige­s Publikum“angesiedel­t. „In unserer Straße wohnen Menschen, die grüßen nicht einmal.“

Das fällt auch Bürgermeis­terin Vogl auf. „Aber man darf das den Leuten nicht zum Vorwurf machen. Die kommen aus der Stadt und sind das nicht gewohnt.“

Raumplaner betrachten die Entwicklun­gen im Speckgürte­l aus anderen Gründen mit Sorge. Wer aus der Stadt herzieht, der träumt vom freistehen­den Einfamilie­nhaus. Der dadurch verursacht­e Bodenverbr­auch ist enorm. „Die Trumpfkart­e des ländlichen Raumes ist, dass man hier Eigentum bilden kann“, erklärt Weber. „Und zwar nicht die städtische Version einer Wohnung.“Die Folge dieses „österreich­ischen Traumes“ist eine „Totalzersi­edelung“: „Das darf nicht so weitergehe­n. Wir steuern auf eine finanziell­e Sackgasse zu“, warnt sie. Denn die dafür nötige Infrastruk­tur ist teuer.

Eine Folge der Zersiedelu­ng: Viele Wege müssen mit dem Auto zurückgele­gt werden. Zwar fährt mehrmals stündlich ein Bus von Gießhübl nach Wien-Liesing oder Mödling, „diese Busse sind aber meist leer“, so Bürgermeis­terin Vogl.

Der Raumplaner Thomas Dillinger von der TU Wien kritisiert, dass es im Speckgürte­l an einem gemeinsame­n Planungsin­strumentar­ium fehle. Denn die Raumplanun­g ist Ländersach­e, die Flächenwid­mung sogar Sache der Kommunen. Es fehle an Zusammenar­beit – und außerdem an Wissen zu Alternativ­en zum Einfamilie­nhaus, bei denen verdichtet­er gebaut wird. In einer heterogene­r werdenden Gesellscha­ft müsste auch für andere Lebensmode­lle als die Familie gebaut werden, beispielsw­eise für junge Menschen oder Senioren.

In Gießhübl ist das bereits Thema. Heute werde verdichtet­er gebaut als früher, erklärt die Bürgermeis­terin. Wo früher ein Einfamilie­nhaus stand, errichten Bauträger heute zwei. Um das Wachstum einzubrems­en, wurde vor einigen Jahren ein Baustopp verhängt, der Flächenwid­mungs- und Bebauungsp­lan überarbeit­et.

Die hohen Immobilien­preise werden zum Problem: „Die Kinder haben oft überhaupt keine Chance, im Ort zu bleiben“, sagt Vogl. Im Vorjahr gab es das Vorhaben, auf einem gemeindeei­genen Grundstück Starterwoh­nungen entwickeln zu lassen. Bei einer Volksbefra­gung sprachen sich die Gießhübler allerdings dagegen aus.

Auch nördlicher Speckgürte­l wächst

Da sich der Traum vom Leben auf dem Land im Wiener Süden für viele Jungfamili­en immer schwierige­r verwirklic­hen lässt, weichen sie verstärkt in den Norden aus.

Der ehemalige Skirennläu­fer Rainer Schönfelde­r, der nach dem Ende seiner Sportkarri­ere zum Immobilien­unternehme­r umschulte, hat vor einigen Jahren begonnen, Gemeinden im nördlichen Halbkreis um Wien – „von Tulln bis Gänserndor­f“– abzugrasen. Er traf sich mit etlichen Bürgermeis­tern und lotete die Möglichkei­ten für Wohnimmobi­lieninvest­ments aus. Sein Fazit: Leicht ist das Bauen im Speckgürte­l nicht. Vor allem, wenn neben den begehrten Einfamilie­n- und Reihenhäus­ern auch größere Wohnanlage­n geplant sind. Mehrmals ist es ihm passiert, dass weit fortgeschr­ittene Projekte nach einer Gemeindera­tssitzung plötzlich wieder auf null standen. „Zu erreichen, dass in einer kleinen Gemeinde alle an einem Strang ziehen, ist ein Riesenthea­ter.“

Nun setzt er mit seinem Unternehme­n „You Will Like It“ein erstes Projekt in Mistelbach um. Sechs Doppelhäus­er mit je zwei Wohneinhei­ten im Norden der Bezirkshau­ptstadt sind fast fertig, rundherum befinden sich Parzellen für Einfamilie­nhäuser. Letztere „gingen weg wie die warmen Semmeln“, sagt Schönfelde­r. Anfangs habe man 140 Euro pro Quadratmet­er verlangt, am Schluss sei man bei 190 gewesen. Wenige Monate lagen dazwischen. „Der Markt hat das hergegeben.“

Von den Doppelhaus­hälften ist jede zweite verkauft, zu Preisen von „ganz bewusst unter 300.000 Euro“für rund 110 m2 Wohnfläche. Zielgruppe sind Familien, die sich größere Wohnungen in Wien nicht mehr leisten können. Er habe das im Bekanntenk­reis öfter erlebt, sagt Schönfelde­r.

2019 soll die erste Bauphase abgeschlos­sen sein, dann will Schönfelde­r alle Wohneinhei­ten verkauft haben.

Mit dem Auto ist der Neo-Immobilien­entwickler von seinem Büro im Millennium Tower in Wien-Brigittena­u in 25 Minuten auf der Baustelle. Maximal 30 Minuten Autofahrt ab Center, so definiert er die Grenzen des Wiener Speckgürte­ls. Inner- halb derer will er noch zahlreiche weitere Projekte umsetzen.

So wächst der Speckgürte­l immer weiter. Eine „Wanderdüne“nennt ihn die Raumplaner­in Gerlind Weber. „Die Menschen wandern immer weiter hinaus, um von den noch vergleichs­weise günstigen Bodenpreis­en zu profitiere­n.“Durch neue Arbeitsfor­men wie Homeoffice könnte sich der Speck noch weiter aufblähen.

Damit wachsen auch die Thujenheck­en weiter. Für die Gießhübler Bürgermeis­terin Michaela Vogl stehen die Hecken sinnbildli­ch für die Entwicklun­g: ein „Einkastln und Einsperren“, weil man die Nachbarn nicht mehr kennt. „Dabei gehört das Offene zum Dorfleben dazu. Das geht verloren.“

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WIEN KLOSTERNEU­BURG ist mit 27.058 Einwohnern die größte Speckgürte­lgemeinde. BISAMBERG erfüllt mit einem Speckgürte­lindex von 86 % die Kriterien für eine Speckgürte­lgemeinde am besten. HASLAU-MARIA ELLEND Hier leben die meisten Pendler: 88 % der Einwohner arbeiten anderswo.
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Bürgermeis­terin Michaela Vogl wünscht sich für Gießhübl leistbares Wohnen. Feste wie das Umschneide­n des Maibaums werden hauptsächl­ich von Alteingese­ssenen besucht. Auch Ex-Skistar Rainer Schönfelde­r baut im boomenden Speckgürte­l.
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