Kurz: Wer Orbán und Salvini ausgrenzt, spaltet und zerstört EU
Kanzler Sebastian Kurz hat eine EU-Mission: Er will eine weitere Spaltung verhindern. Mark Rutte ist sein Leitstern, Viktor Orbán und Matteo Salvini will er nicht erziehen.
Wien/Berlin – Unter dem am 1. Juli beginnenden österreichischen EURatsvorsitz soll es Fortschritte bei der Zusammenarbeit in den Bereichen Sicherheit und Außengrenzschutz geben. Das sagt Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im STANDARDInterview. In diesem Zusammenhang warnt Kurz vor der Ausgrenzung populistischer Politiker wie Viktor Orbán in Ungarn oder Matteo Salvini in Italien. Wer solche „Schubladisierungen“vorantreibe, spalte und zerstöre die EU. Einen Verbündeten sieht der Kanzler nach eigenen Angaben im liberalen niederländischen Amtskollegen Mark Rutte.
Im Streit um die deutsche Asylpolitik droht die bayerische CSU Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mit dem Aufkündigen der Koalition. Merkel beharrt weiter auf einer europäischen Lösung. (red)
Standard: Als Sie die Bilder vom G7-Treffen in Kanada sahen, die ratlosen Europäer, die um US-Präsident Donald Trump herumstanden, was haben Sie sich da gedacht?
Kurz: Nicht nur ist der amerikanische Präsident unkonventionell, die ganze amerikanische Politik ist unberechenbarer geworden. Wir haben als Europäische Union gleichzeitig Spannungen mit Russland, eine schwierige Situation in der Türkei, Bürgerkrieg und Terror im Süden der Union. Das ist also ein herausforderndes geopolitisches Umfeld. Das bietet auch die Chance, dass die Europäische Union jetzt stärker zusammenrückt und geeinter agiert.
Standard: Es sieht aber so aus, als seien die Europäer darauf nicht vorbereitet, nicht handlungsfähig. Der niederländische Premierminister Mark Rutte hat das in einer Rede im EU-Parlament eindringlich betont.
Kurz: Seine Rede war sehr gut. Ich teile die Einschätzung zu hundert Prozent. Es war von Beginn der Union an klar, dass es sinnvoll wäre, eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik aufzubauen. Dann ist jahrzehntelang nichts passiert. Vielleicht hat die Europäische Union Trump gebraucht, um diesen Schritt zu machen. In den vergangenen Monaten ist bei der gemeinsamen Verteidigungspolitik so viel geschehen wie seit Jahrzehnten nicht. Wir werden unser Ziel nur erreichen, wenn es den Wunsch zur Zusammenarbeit gibt, diese ständigen Spannungen in der Union, dieses AufeinanderHerabschauen, diese Entgleisungen in der Tonalität, wenn das endlich weniger wird.
Standard: Welche Entgleisungen meinen Sie da, zwischen Politikern oder Regierungen?
Kurz: Diese Spannungen zwischen Ost und West, zwischen Nord und Süd. Wenn man in Osteuropa den Eindruck hat, ein EU-Mitglied zweiter Klasse zu sein, dann ist das alles andere als positiv. Mir wurde im österreichischen Parlament vorgeworfen, dass ich Kontakt zu manchen Regierungskollegen in Ländern der EU pflege. Da müssen wir doch fragen: „Was soll denn das?“Das ist das Gegenteil von Einigkeit, das ist Spaltung pur.
Standard: Wie kommt man davon weg?
Kurz: Die Chance besteht, weil die Notwendigkeit noch nie so groß war, gemeinsam voranzukommen. Wenn es nicht gelingt, bei Sicherheit und Außengrenzschutz stärker zusammenzuarbeiten, werden Sicherheit und Wohlstand auf unserem Kontinent nicht mehr selbstverständlich sein.
Standard: Es scheint unter den EU-Regierungschefs zwei Lager zu geben. Macron, Rutte, Merkel, auch Bettel aus Luxemburg, die versuchen, die Einheit zu stärken. Andere sind Dekonstruktivisten, die wollen zurück zum Nationalstaat, wie Viktor Orbán oder in Italien Lega-Chef Matteo Salvini.
Kurz: Ich halte diese Schubladisierungen für vollkommen verfehlt. Wer solche Schubladisierungen weitertreibt, der spaltet und zerstört die Union. Sie werden doch nicht glauben, dass ein Viktor Orbán oder ein Salvini kompromissfähiger werden, je mehr man von oben auf sie herabschaut. Einige der Vorschläge von Macron sind aus Deutschland abgelehnt worden. Die stärkste Unterstützung für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik kam von den Visegrádstaaten. All jene, die die Welt in gute und schlechte Europäer einteilen, sind Garant dafür, dass die Europäische Union auseinanderfällt.
Standard: Aber der Punkt ist doch, dass Orbán oder Salvini die gemeinsame Politik zurückdrehen wollen. Wie soll das gehen? Kurz: Ich gebe zu bedenken: Mark Rutte ist ein Liberaler. Ich stimme mit ihm in min- destens 95 Prozent der Fragestellungen überein. Er hat seine Rede in Straßburg unter den Titel gestellt „Weniger ist mehr“. So wie wir uns jetzt unter dem Titel der Subsidiarität für eine Union aussprechen, die sich in weniger Bereiche einmischt, aber fokussierter ist bei den wichtigen Dingen.
Standard: Rutte hat Goethe zitiert: „In der Beschränkung zeigt sich der Meister.“
Kurz: Eben, und das ist nicht unbedingt das Konzept von Macron. Ich glaube, dass das Konzept Rutte sich am Ende des Tages durchsetzen wird. Es ist der gemeinsame Nenner, auf den alle zu bringen sein könnten. Der liberale niederländische Premier ist für mich der stärkste Verbündete für das, wo wir hinwollen.
Standard: Seine Prioritäten sind Vollendung des Binnenmarktes, Klimaschutz, EU-Verwaltung schlanker machen, Kompetenzen neu verteilen, die Agrar- und Regionalpolitik der EU radikal überdenken.
Kurz: Ja, davon teile ich vieles. Österreich ist zusammen mit den anderen Nettozahlern Niederlande, Dänemark, Schweden und Finnland der Meinung, dass der Brexit und die Debatte über den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen ein guter Anlass sind, um die Ausgaben der EU kritisch zu hinterfragen. Wir stehen vor einer großen Umstellung, von den klassischen europäi- schen Industriezweigen hin zur Technologie- und Digitalwirtschaft. Die entscheidende Frage für unsere Wirtschaft wird nicht sein, wie wir unsere Transfertöpfe strukturieren, sondern wie wir jene Industrien in Europa ansiedeln können, die die Arbeitsplätze von morgen sichern werden, im Wettbewerb mit den USA und China.
Standard: Was ist Ihre Vision vom künftigen gemeinsamen Europa?
Kurz: Ich habe die Vision einer Union, die schlanker, geeinter und fokussierter ist. Schlanker bedeutet für mich, wenn wir die Entscheidungsstrukturen nicht reduzieren, die Zahl der Entscheidungsträger, wenn wir die Art und Weise, wie entschieden wird, nicht verändern, dann werden wir im internationalen Wettbewerb zurückfallen. Das beginnt bei der Zusammenlegung der Parlamentssitze in Straßburg und Brüssel auf einen. Das geht weiter über die Reduktion der Zahl der Kommissare, nicht nur aus Sparsamkeitsüberlegungen, sondern weil weniger Kommissare automatisch dazu führen, dass es weniger an Regelungen gibt.
Standard: Das klingt nach dem, was Sie auf nationalstaatlicher Ebene tun: Der Staat muss schlanker werden, soll dem Bürger weniger abverlangen, auch weniger geben, weniger Steuern einheben. Auch auf EU-Ebene?
Kurz: Definitiv. Und es muss Diskussion auf Augenhöhe geben, ein Ende des Herabschauens auf andere. Um es gleich konkret zu sagen: Wir dürfen keine Kompromisse bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit machen. Aber in den meisten Bereichen sollten wir doch unterschiedliche Meinungen und Positionen zulassen. Es muss das Prinzip gelten „In Vielfalt geeint“und nicht „In Gleichheit getrennt“. Wenn dieser Versuch des ständigen Erziehens anderer, des ständigen Vorgabenmachens bis ins kleinste Detail weitergeht, dann gefährden wir das gemeinsame Europa.
Standard: Geeinter hieße doch aber auch, dass die Nationalstaaten Kompetenzen an die EU-Ebene abgeben müssen. Wo genau?
Kurz: Das würde ich gerne unter dem Aspekt zusammenfassen, wenn ich sage, die EU muss fokussierter werden. Wir erleben, dass bei großen politischen Fragen kein Fortkommen möglich ist, zumindest nicht in der Geschwindigkeit, wie es nötig wäre. Beim Außengrenzschutz braucht es dringend eine Lösung. Eine Stärkung von Frontex bis 2027, wie das geplant ist, reicht nicht. Das ist viel zu lange. Wenn das nicht gelingt, sind das Prinzip der Niederlassungsfreiheit und das Europa ohne Grenzen nach innen stark gefährdet.
Standard: Das bringt uns wieder zu Rutte, der scheint für Sie so etwas wie ein Rolemodel, ein Leitbild zu sein oder? Kurz: Ja, durchaus. Er ist ein erfahrener charismatischer Premier, sicherlich einer meiner engsten Vertrauten und Verbündeten.
Standard: Er nannte bei seiner Rede im EUParlament eine Zahl von hunderten Milliarden Euro im Budget, über die man reden müsse, meinte Einschnitte bei den Förderungen im Agrar- und Regionalbereich, den Kohäsionsfonds. Sehen Sie das auch so?
Kurz: Sicher. Das ständige Fortschreiben von Budgets ist weder für die Nationalstaaten noch für Europa gut. Es kommen neue Aufgaben dazu, andere muss man kritisch hinterfragen. Die Regionalförderung, so wie sie vor 30 Jahren erfunden wurde, ist vielleicht nicht mehr das zeitgemäße Projekt für das 21. Jahrhundert, sondern die Schaffung von digitaler Infrastruktur.
Standard: Es gab Aufregung, weil Sie in Berlin von einer „Achse der Willigen“beim Abschieben von Asylwerbern sprachen. Viele dachten an die „Achse Rom–Berlin“, Hitler und Mussolini. Wie konnte das passieren?
Kurz: Ich habe davon gesprochen, eine europäische Achse der Willigen zu schaffen, und habe dabei nicht nur Wien, Berlin und Rom genannt, sondern genauso die Niederlande und Dänemark als mögliche Verbündete. Ich halte das wirklich für absurd, mir das vorzuhalten, nur weil das Wort Achse vorkam. Erstens möchte ich mir die Zusammenarbeit mit Deutschland und Italien nicht nehmen lassen. Und zum Zweiten, weil ich grad aus Israel komme: Ich lehne jede Form von Antisemitismus oder nationalsozialistische Terminologie entschieden ab, aber das Wort Achse ist nicht aus unserem Sprachgebrauch gestrichen. Wir haben vielmehr ein Riesenproblem mit Antisemitismus in Europa, der durch die Flüchtlingskrise zusätzlich zum bereits bestehenden importiert wurde, es gibt die Situation, dass Juden in Paris oder in Brüssel sich teils nicht mehr sicher fühlen. Das ist eine Schande für Europa. Dagegen sollten wir entschieden vorgehen, statt zu diskutieren, ob es vielleicht problematisch ist, das Wort Achse zu verwenden.