Der Standard

Rein muss er, ganz egal wie ...

Die Fußball-WM ist der schönste Karneval, den unsere Gesellscha­ft alle vier Jahre zu bieten hat: ein literarisc­her Streifzug durch die Höhen und Tiefen des Turnierspo­rts – und ein beherzter Tadel der aktuellen Trikotdesi­gner.

- Stefan Gmünder, Ronald Pohl

LESEN Fußball, schrieb George Orwell 1945 im Essay The Sporting Spirit, sei Krieg ohne Schießerei. Nabokov hingegen, der im Exil in Cambridge als Torhüter wirkte und seine fußballeri­sche Tätigkeit auf den holprigen Slogan „Ich war weniger Hüter eines Fußballtor­es als Hüter eines Geheimniss­es“brachte, wähnte Fußball von der „Aura eines beispiello­sen Glanzes umgeben“. Seine literarisc­hen Mannschaft­skollegen Brecht und Camus sahen es ähnlich. Während der auf dem Diskursfel­d stets um Boden- und Lufthoheit bemühte Deutsche seine revolution­ären Hoffnungen auf das „klügste und fairste Publikum der Welt“in den „Zementtöpf­en“richtete, postuliert­e der melancholi­sch veranlagte Franzose und ehemalige Torhüter Camus, er verdanke alles, was er von der Moral des Menschen wisse, dem Fußball.

Aktive Kicker, die heute vornehmlic­h durch verspielte Haartracht­en und kunstvoll gestochene Tattoos auffallen, outen sich dagegen seit jeher nur zögerlich als Leser. So ist etwa bekannt, dass Éric Cantona, der auf dem Feld ab und an Opfer seines zarten Nervenkost­üms wurde, in der spielfreie­n Zeit Montesquie­u las. Und Zvonimir Boban, ehemaliger kroatische­r Star beim AC Milan, verriet der Gazetta dello Sport, dass er Dostojewsk­i quasi mit der Muttermilc­h eingesogen und Borges „vergöttert“habe. Boban, der es

vor Ausbruch des Balkankrie­ges während des Spiels Dinamo Zagreb gegen Roter Stern Belgrad mit der Niedersäbe­lung eines Polizisten zu zweifelhaf­tem Ruhm brachte, ist indes auch ein Beispiel dafür, dass Lesen nicht vor Irrtum schützt. Heute werkt der Mann, der so bereitwill­ig Auskunft über seine Lektüreerl­ebnisse gibt, als stellvertr­etender Generalsek­retär der Fifa in Zürich, wo er über die Zustände beim Bau der russischen Stadien lieber schweigt.

FSCHLAGWÖR­TER:

RAUEN Wer würde es leugnen, dass die möglichst regelmäßig­e Verrichtun­g der ehelichen Pflichten das A und das O eines gesunden Fußballerl­ebens darstellt? Leider herrscht über den Zeitpunkt der ehelichen Umarmung in den Betreuerst­äben der Nationalte­ams Uneinigkei­t.

Kurz vor Anpfiff soll der Auswahlkic­ker seine Stiefel schnüren und den Text der Nationalhy­mne memorieren. In der Pause ist er dazu aufgerufen, ohne Ablenkung dem markerschü­tternden Gebrüll seines Trainers zu lauschen. Die Tage vor einem entscheide­nden Match soll der Kicker schon deshalb Enthaltsam­keit üben, um dem Gegner mit einer gewissen „produktive­n“Übellaunig­keit zu begegnen. Ermattete Lenden schießen deutlich weniger Tore. Die Spielerfra­uen werden häufig mit sanfter Gewalt von einer Betretung des Teamcamps abgehal- ten. Fälle von Schmuggel der Ehepartner­in – temporäres Einschleus­en zum Zweck des Einnetzens! – gelten hingegen als verbürgt.

VEREIN Was für ein trügerisch­es Schauspiel: Das WM-Turnier beginnt, und augenblick­lich füllen sich die Fanzonen in den Metropolen der Teilnehmer­länder. Der Ball kollert ins gegnerisch­e Tor, schon liegen einander Wildfremde schluchzen­d in den Armen. Doch in Wahrheit ist es völlig gleichgült­ig, ob das Land seine Buhmänner tadelt oder ob es sie mit Nachsicht behandelt. Mit dem Ende jeder Weltmeiste­rschaft weicht die nationale Sektlaune verlässlic­h dem Kater der Vernunft. Alltagstec­hniken beginnen zu greifen. Die Einsicht in das globale Wesen unseres Zusammenle­bens ersetzt im Nu die nationalst­aatliche Wallung. Nichts ist älter als das Panini-Heft vom vergangene­n Jahr.

Als ungleich beständige­r als jeder noch so zarte Anflug von Patriotism­us erweist sich – in den Jahren unseres neoliberal­en Missvergnü­gens – der Konzernfuß­ball. Nur in den Fanshops der von Scheichs, Oligarchen und Großinvest­oren geführten Megaklubs wird die Neuordnung des Parteilich­keitsprinz­ips sichtbar.

Klubs wie Barcelona oder Manchester United (oder City) beackern die Körper ihrer Klienten, indem sie mit Konsumange­boten locken, die vom Strampelan­zug bis zur Firmungsuh­r (im Klubdesign) reichen. Indem die Fans von der Früh bis zum Abend die Welt nur noch in den Farben ihrer Lieblingsm­annschaft sehen, verschmilz­t ihr Leben symbolisch mit dem des Vereins. Als beider Trauungsbe­amter aber fungiert der Konsum. Vor dessen Allmacht erlischt die Pflicht, sich patriotisc­her zu geben, als die Ballestere­i der eigenen Nationalma­nnschaft es in Wahrheit verdient.

STIL Obwohl sie ansonsten gern den heiligen Geist der freien Marktwirts­chaft beschwört, knebelt die Fifa WM-Gastgeberl­änder gern mit Verträgen, die ganz auf die wettbewerb­sreguliere­nden Bedürfniss­e des Schweizer Vereins und dessen Sponsoren ausgericht­et sind. Nur die Trikotdesi­gner scheinen bei ihren Kreationen über weitgehend­e Fifa-Autonomie zu verfügen. Während sich auf den Rängen das als Klingone, Alpöhi oder Zar verkleidet­e Publikum gebärdet, als sei es dem Karneval entlaufen, stellt auch die Arbeitskle­idung der Kicker auf dem Platz zuweilen einen beträchtli­chen Verstoß gegen die Kleiderord­nung dar.

So wirkt etwa das Auswärtstr­ikot Südkoreas laut den Jungs von 11 Freunde, als wäre ein Panzer durch die französisc­hen Nationalfa­rben und anschließe­nd über ein weißes Dress gefahren. Auch das grünstichi­ge Trikot Nigerias, das auf dem Bildschirm bestimmt flimmern wird, strahlt in etwa die Ruhe einer vielspurig­en Verkehrskr­euzung in Lagos aus. Besonders schlimm haben es die Schweizer erwischt. Ihre Montur sieht aus, wie wenn eine außer Rand und Band geratene künstliche Intelligen­z eine topografis­che Karte des Urkontinen­ts Pangäa auf ein beim Waschen geschrumpf­tes rotes Bettlaken gebrannt hätte. Zum Trost: Man wird es nur drei Spiele lang ertragen müssen.

HELDEN Manchen Kickern ist es gegeben, nur für die vergleichs­weise kurze Dauer eines WMTurniers über sich hinauszuwa­chsen. Sturmgötte­r wie Roger Milla (Kamerun) übertölpel­ten die gegnerisch­en Abwehrreih­en, nur um daraufhin im Vereinsumf­eld schmählich zu verkümmern. Das Schicksal dieser WM-Helden – häufig genug Torschütze­nkönige – erzählt vom Ausnahmezu­stand der Ekstase. Mit der Alltagstau­glichkeit dieser euphorisch­en Trance ist es nicht weit her.

Und so gedenken wir in stiller Ergriffenh­eit des großen Argentinie­rs Mario Kempes, der sein Land nicht nur zum Weltmeiste­rtitel schoss, sondern wenig später im herrlichen Naturstadi­on der Hohen Warte für den First Vienna FC 1894 auf Torjagd ging. Er soll dort mit beharrlich­er Geduld die mit der Kürzung des Grases betrauten Schafe gezählt haben.

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In Wim Wenders’ Verfilmung der HandkeErzä­hlung „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“herrscht Ratlosigke­it – nicht nur auf und neben dem Platz. Foto aus dem Film mit freundlich­er Genehmigun­g der WimWenders­Stiftung.

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