Justiz startet neue Ermittlungen zu Spionagevorwürfen
Staatsanwaltschaft Wien und Deutscher Bundestag schalten sich in Causa BND ein
Wien – Nach Berichten von STANDARD und Profil, wonach der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) über Jahre rund 2000 Ziele in Österreich ausgespäht hat, leitet die Staatsanwaltschaft Wien neue Ermittlungen ein. Dies erfuhr der STANDARD aus Justizkreisen. Konkret soll ein weiteres Rechtshilfeersuchen an die deutschen Behörden gestellt werden.
Zuvor hatte die Regierung am Samstag nach einer kurzfristig anberaumten Sitzung „volle Aufklärung“von Deutschland gefordert. „Ein Ausspionieren unter befreundeten Staaten ist nicht nur unüblich und unerwünscht, es ist auch nicht akzeptabel“, sagte Bundespräsident Alexander Van der Bellen bei einem Presseauftritt mit Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP).
Kurz berichtete, es habe schon 2014 „erste Verdachtsmomente“gegeben. Die daraufhin von der Justiz eingeleiteten Ermittlungen „konnten nicht erfolgreich abgeschlossen werden, weil Deutschland eine Kooperation damals verweigert hat“. Er zeigte sich aber zuversichtlich, dass das Nachbarland diesmal kooperativer sein werde. Auch die Opposition fordert eine lückenlose Aufklärung.
In Deutschland trat bereits der Bundestag auf den Plan. Das parlamentarische Kontrollgremium der Geheimdienste will die Vorwürfe prüfen. (red)
Knapp 2000 Ziele spähte der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND) in Österreich elektronisch aus. Darunter Firmen, Universitätsprofessoren und Ministerien. Ein Überblick über das aktuelle Aufregerthema:
Frage: Der BND spioniert also in Österreich. Ist das überraschend?
Antwort: Nein. Dass sich auch befreundete Nachbarstaaten gegenseitig ausspähen, ist seit Jahrzehnten bekannt. Die Recherchen von STANDARD und
Profil enthüllten aber, dass das in einem weitaus größeren Ausmaß als bisher bekannt passiert. So finden sich auf der Liste des BND nicht nur große Konzerne mit globaler Bedeutung oder internationale Organisationen, deren Ausspähung logisch erscheint.
Vielmehr nahm der deutsche Nachrichtendienst auch klein- und mittelständische Unternehmen aus einer großen Reihe von Branchen sowie Privatpersonen, etwa Universitätsprofessoren, ins Visier. Der Spiegel berichtete bereits 2015 von Spähzielen des BND in anderen EU-Mitgliedsländern, er dürfte Zugriff auf dieselbe oder eine ähnliche Liste gehabt haben. Das Nachrichtenmagazin erwähnte jedoch nur wenige Beispiele in Österreich, enthüllte aber die Ausspähung von EU-Institutionen oder dem französischen Konzern Eurocopter.
Frage: Sind diese Spionageaktivitäten schon lange vorbei?
Antwort: Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und Bundespräsident Alexander Van der Bellen haben darauf hingewiesen, dass die Liste der enthüllten Spähziele lediglich die Jahre 1999 bis 2006 umfasst. Das ist allerdings nur der Startzeitpunkt der Überwachung. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Ausspähung 2006 beendet wurde. So heißt es in einem Bericht des Deutschen Bundestages, dass der BND selbst erst im Frühjahr 2013 überlegte, wie man mit Spähzielen „mit EU/Nato-Bezug“umgehen soll.
Frage: Umfasst die Liste nur Ziele, die nach 2013 deaktiviert wurden? Ist sie vollständig?
Antwort: Nein. Es handelt sich nicht um jene Liste aussortierter Ziele, die deutschen Parlamentariern vorgelegt wurde. Genauso wenig handelt es sich um die „vollständige“Liste aller Spähziele in Österreich. Der BND hatte bis 2013 – gelinde gesagt – ein leicht chaotisches System, was seine Selektoren, also Suchbegriffe wie Telefonnummern oder E-Mail-Adressen, betrifft.
Frage: Warum nahm der BND so viele Unternehmen aus Österreich ins Visier?
Antwort: Der BND hatte bis 2016 einen sehr großen Handlungsspielraum, was die Spionage im Ausland betrifft. Ausländer im Ausland sind für Geheimdienste „Freiwild“, hier griffen keine Persönlichkeitsrechte. Das gilt für den BND ebenso wie für US-amerikanische oder russische Dienste. Die Liste an Zielen wurde immer länger, ohne bereinigt zu werden. Für fast jedes Spähziel lässt sich mit etwas Fantasie eine Begründung finden. So kommen etwa in Atomkraftwerken zigtausende Komponenten zum Einsatz. Wenn eine österreichische Firma etwa Wärmepumpen oder Messgeräte herstellt, kann der BND angeben, zu prüfen, ob dieses Unternehmen etwa mit dem Iran oder Nordkorea in Kontakt steht.
Frage: Was passiert jetzt?
Antwort: Kurz und Van der Bellen forderten von der deutschen Regierung eine baldige Aufklärung. Das Kontrollgremium des Deutschen Bundestages hat angekündigt, beim BND zu prüfen, ob diese Ziele in Österreich weiterhin ausgespäht werden. Außerdem rollen die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in Österreich wieder an. Auch Unternehmen könnten gegen die Ausspähung vorgehen. Dieses Mal sollen deutsche Stellen ihre Kooperation signalisiert haben – bei den ersten staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen war das nicht der Fall, enthüllte Kurz am Samstag.
Frage: Ist der BND für Österreich jetzt ein Bösewicht?
Antwort: Solche Kategorien gibt es unter Geheimdiensten nicht. Aber selbst wenn man von „Freunden“und „Feinden“sprechen will, ist der BND noch lange nicht als feindlicher Dienst einzuordnen. Im Gegenteil: Die Zusammenarbeit mit österreichischen Diensten ist seit Jahrzehnten sehr eng. Das Heeresnachrichtenamt gilt gar als „kleiner Bruder“des BND.
Frage: Wie ist die Auslandsspionage des BND heute geregelt?
Antwort: Der Deutsche Bundestag verabschiedete 2016 ein neues Gesetz, das die sogenannte Ausland-AuslandFernmeldeaufklärung reformierte. Nun sollen keine Staats- und Regierungschefs befreundeter Länder mehr ausspioniert werden. Das Abhören von EU-Bürgern muss begründet werden. Das Abschöpfen von Telekommunikationsdaten bleibt aber erlaubt. So werden am De-Cix in Frankfurt am Main, dem größten Internetknoten der Welt, alle darüber laufenden Datenströme komplett abgesaugt. Zu den Kunden des De-Cix zählen unter anderen die Telekom Austria, Google und Facebook.
Österreichs Staatsspitze ist zu Recht empört: Freunde spähen einander nicht aus. Das ist schlichtweg „nicht akzeptabel“, wie Bundespräsident Alexander Van der Bellen in seltener Strenge Samstagabend nach der Krisensitzung der Bundesregierung zu den Berichten über eine Liste von Ausspähzielen gesagt hat. Und dass dies offenbar in der Vergangenheit passiert ist und (mutmaßlich) nun nicht mehr geschieht, macht die Sache nicht besser. „Ausspähen unter Freunden war auch vor zehn Jahren nicht okay“, sagte Bundeskanzler Sebastian Kurz. Man darf gespannt sein, wie Deutschland das offenbar rege Interesse seines Bundesnachrichtendienstes BND an österreichischen Firmen, Banken, Ministerien, Institutionen et cetera erklären wird.
Dass die Ausspähung mehrere Hundert Ziele in Österreich betraf, wie die dem STANDARD und Profil vorliegende Liste zeigt, ist fast noch aufklärungsbedürftiger. Man könnte den Eindruck bekommen, nahezu alles, was in Österreich passierte, war von deutschem Staatsinteresse – oder zumindest haben sich das deutsche Geheimdienstler jahrelang so hingebogen, um im Rahmen der eigenen Gesetze schnüffeln zu dürfen.
Für die deutsche Kanzlerin Angela Merkel waren die Enthüllungen wohl der Tiefpunkt einer an Tiefpunkten nicht gerade armen Woche. Im Februar 2017 hatte Merkel vor dem NSAUntersuchungsausschuss des Bundestages selbst noch die USA getadelt: „Ausspähen unter Freunden geht gar nicht.“Nun muss sie sich wohl bei Österreich dafür entschuldigen, dass Deutschland auch kein ganz so sauberer Freund gewesen war.
Der österreichischen Regierung kommt die Angelegenheit gerade jetzt möglicherweise gar nicht so ungelegen – das muss man, bei aller berechtigten Empörung, auch sehen. Einerseits ist der Wirbel so gewaltig, dass er von der höchst unangenehmen Debatte über den Zwölfstundentag ablenkt.
Andererseits erhebt sich auch die Frage, was der österreichische Verfassungsschutz darüber wusste, was die deutschen Freunde so treiben. Entweder er wusste nichts, dann ist er weder Geld noch Aufwand wert – oder er wusste mehr, als er bis dato zugibt. In beiden Fällen hat BVT-Chef Peter Gridling Erklärungsbedarf. Just jener Gridling, den FPÖ-Innenminister Herbert Kickl aus anderen Motiven dringend loswerden möchte. Der Verdacht liegt zumindest nahe, dass man in Österreich gar nicht so genau wissen wollte, was die „befreundeten Dienste“eigentlich so treiben. Genauso wie man das auch in Deutschland lange nicht so genau wisse wollte.
Glaubt man Insidern, funktioniert die Sache unter Spionen nämlich – vereinfacht dargestellt – so: Lässt du mir in deinem Land ein wenig Freiraum, mich umzuhören und umzuschauen, gebe ich dir dafür Infos, die du sonst nie bekommen hättest, weil du a) ein zu kleines Land bist, b) zu wenige Ressourcen hast, um sie dir selbst zu beschaffen, c) nicht in den wichtigen Netzwerken (zum Beispiel Nato) vertreten bist. Quid pro quo, und wir reden nicht mehr darüber.
Daran hat sich offenbar seit den Dritter-Mann-Tagen nie etwas geändert, und alle Parteien, die in Österreich je an der Regierung waren, schauten zu – oder vielmehr weg. Insofern ist die Empörung auch ein wenig naiv. Man hätte schon längst selbst mehr tun müssen, um dem Ausgespähtwerden einen Riegel vorzuschieben. In aller Freundschaft, versteht sich.