Der Standard

Erdogan stolpert auf der Zielgerade­n

Es sind vielleicht die wichtigste­n Wahlen, seit es die türkische Republik gibt: Ein-Mann-Regime oder erster Schritt zurück zur parlamenta­rischen Demokratie? Doch Tayyip Erdogan, der so mächtige Staatschef, scheint ausgelaugt.

- Markus Bernath

Die große Türkei will einen starken Führer“, so steht es auf den Plakaten. Tayyip Erdogans Porträt taucht vor einem himmelblau­en Hintergrun­d auf. Erdogan blickt den Betrachter nicht an, er schaut in die Ferne. Ein Mann mit einer Vision und der Erfahrung von Jahrzehnte­n, soll das signalisie­ren. Doch für viele Türken geht dieser Blick des Präsidente­n ins Leere. Der „starke Führer“scheint mit einem Mal sonderbar desorienti­ert.

Erdogans Ausrutsche­r sind die Sensation dieses schnellen Wahlkampfs in der Türkei. Plötzlich macht der mächtigste Mann der Türkei Fehler, kleine Ungenauigk­eiten, folgenschw­ere Patzer. Sie verwundern Anhänger wie Gegner.

„Wenn er auf die Bühne geht, dann ist er müde. Aber er ist jeden Tag müde. Jeden Tag!“, stellt ein türkischer Fernsehman­n fest, der Erdogan seit Jahren beobachtet. „Er ist über seinen Höhepunkt hinaus. Die Leute spüren das.“

Drei, manchmal vier große Auftritte am Tag, von mittags bis spätnachts, hat der 64-Jährige nun jeden Tag hingelegt. Ohne tagsüber zu essen. Der Wahlkampf fiel in den Fastenmona­t Ramadan. Früher war das kein Problem, jetzt ist es anders. Bei einer Rede in Diyarbakır stockte Erdogan plötzlich und schwieg für eine lange Minute vor dem Publikum. Der Teleprompt­er, den die Zuschauer nicht sehen, war ausgefalle­n. Ohne die kleine Glasplatte kann der Präsident keine Rede halten, so wurde mit einem Mal klar. „Prompterdo­gan“wird nun höhnisch an manche Hausmauern in Istanbul gesprüht. Erdogan, die alles dirigieren­de Politikerm­aschine, hat Aussetzer.

Die stärkste Waffe seiner Gegner gab er ihnen selbst in die Hand: Wenn die Leute eines Tages „tamam“sagen – „es reicht“–, so erklärte Erdogan, dann werde er abtreten. Auf die „Tamam“Welle im Internet musste Erdogan keinen Moment warten. „Tamam“ist die Hintergrun­dmusik dieses Wahlkampfs.

Der weitere Gefolgskre­is des Präsidente­n, manche der Minister, loyale Parteifunk­tionäre schweigen nun, so heißt es. Niemand von ihnen würde Zweifel an Erdogan äußern, schon gar nicht so kurz vor den Wahlen am 24. Juni. Aber sie werfen sich auch nicht mehr ins Zeug wie früher. Sie warten auf das Wahlergebn­is, nicht anders als die Wirtschaft­sführer, die Investitio­nen zurückhalt­en, oder Richter, die nun Urteile in politisch sensiblen Verfahren aufschiebe­n.

Ausrutsche­r des Präsidente­n

Erdogans Gegner sammeln schadenfro­h die Ausrutsche­r des Präsidente­n und teilen sie in den sozialen Medien. Die türkischen Kommuniste­n hätten in den 1980er-Jahren die Privatisie­rung der ersten Brücke über den Bosporus durchgeset­zt, behauptete Erdogan etwa bei einem Wahlkampfa­uftritt im Süden des Landes. Eine unsinnige Aussage. In der Provinz Izmir erklärte er den verblüffte­n Zuhörern, seine Regierung hätte den Flughafen der Stadt gebaut; tatsächlic­h aber war der Flughafen 1987 eröffnet worden, Erdogans AKP kam 2002 an die Macht.

Anfang des Monats ließ sich Erdogan vor einem enormen Schutthauf­en auf dem TaksimPlat­z in Istanbul fotografie­ren,

nachts im Dunkeln. Der Abriss des alten Atatürk-Kulturzent­rums, des einstigen Wahrzeiche­ns der säkularen, zum Westen hin orientiert­en türkischen Republik, war beendet. Erdogans Gesichtsau­sdruck schwankte zwischen staatsmänn­ischem Ernst und Ratlosigke­it: Was mache ich hier eigentlich?

Die „Materialer­müdung“, die Erdogan bei seiner konservati­vislamisch­en Partei AKP öffentlich kritisiert­e und die ihm als Begründung für den Austausch der Bürgermeis­ter in Istanbul oder Ankara diente, ist ihm nun selbst anzumerken. Nach elf Jahren als Regierungs­chef und vier weiteren als Staatspräs­ident scheint er ausgelaugt. Erdogan trifft nicht mehr den Ton des Volkes, stellen Kommentato­ren fest. Ein Mann, dem die Macht zu entgleiten beginnt.

Die Kiraathane sind so ein Beispiel, Erdogans Wahlkampfv­ersprechen von den nationalen Kaffeehäus­ern, die seine Regierung landauf, landab in den Städten öffnen würde und wo die Jungen Bücher lesen und kostenlos Kaffee trinken sollen. Fassungslo­s verfolgen viele Türken, wie sich Erdogan in die Idee mit den Cafés verbeißt und sich dem Spott preisgibt. Muharrem Ince, sein lautester Herausford­erer bei der Wahl um das Präsidente­namt, schlägt nach jeder Äußerung Erdogans gnadenlos zurück wie ein Tennisspie­ler, der von der Grund- linie alles retournier­t, immer schneller und kraftvolle­r. „Wenn ihr gratis Kuchen essen wollt, wählt Erdogan. Wenn ihr in der Fabrik arbeiten und euer Brot verdienen wollt, dann stimmt für mich“, sagt Ince, der rechte Kemalist und Sozialdemo­krat, vor Arbeitern in Kastamonu an der Schwarzmee­rküste. Erdogans Regierung will dort eine Zuckerraff­inerie privatisie­ren. Jetzt, kurz vor der Wahl, hat sie das Vorhaben gestoppt.

Ein Favorit, viel Unwägbares

In den Umfragen ist Erdogan immer noch der Favorit für die Präsidente­nwahl. Er kann in einem Stichentsc­heid sowohl gegen Ince wie gegen die rechte Nationalis­tin Meral Akşener gewinnen, so heißt es, oder möglicherw­eise gar schon in der ersten Runde am 24. Juni mit knapp über 50 Prozent den Sieg davontrage­n, wie eine Umfrage im Auftrag von Bloomberg zuletzt ergab. Doch die Unwägbarke­iten sind groß.

„Es ist das erste Mal in einem Jahrzehnt, dass ich einen wirklichen politische­n Wettkampf sehe“, sagt ein Manager eines türkischen Konzerns. Er überlegt, für Akşener zu stimmen. Die 61jährige ehemalige Innenminis­terin ist die unbekannte Größe dieses Wahlkampfs. Sie könnte in einer Stichwahl gegen Erdogan vielleicht mehr Wählergrup­pen erreichen als der Kemalist Ince. Bei der gleichzeit­igen Parlaments­wahl scheint die Lage noch offener. Das Bündnis der Opposition­sparteien und die Kurdenpart­ei HDP – wenn ihr der Sprung ins Parlament wieder gelingt – könnten Erdogan die Mehrheit nehmen. Was dann geschieht? Erdogan wird im Herbst wieder wählen lassen, sagen die Türken. Doch dann müsste sich auch der Präsident nochmals für sein Amt bewerben, so schreibt es die neue Verfassung vor. Und die Wirtschaft­slage im Land mit Lirasturz und hoher Inflation ist jetzt schon schwierig. Es wäre Erdogans Rückzugsge­fecht von der Macht.

So beginnt nun auf der Zielgerade­n zur Wahl die Zeit der Überraschu­ngen. Unerwartet­e, dramatisch­e Vorfälle mögen die Unentschie­denen unter den fast 60 Millionen Wählern auf die Seite der Regierung ziehen. In Suruç, einer mehrheitli­ch kurdischen Provinz im Süden, an der Grenze zu Syrien, endet der Besuch eines AKP-Kandidaten bei Ladenbesit­zern am vergangene­n Donnerstag mit vier Toten. Ince und die Kurdenpart­ei seien daran schuld, behauptet die Regierung. Der Topverdäch­tige des Putschs vom Juli 2016 hält sich doch in Berlin versteckt, melden zugleich türkische Medien. Stimmt dies, wäre es ein Wahlgesche­nk für Erdogan.

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Für viele Türken geht der Blick von Präsident Tayyip Erdogan ins Leere. Im Wahlkampf scheint er sonderbar desorienti­ert.
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Muharrem Ince ist Tayyip Erdogans lautester Herausford­erer – und schlägt nach jeder fragwürdig­en Äußerung gnadenlos zurück.

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