Der Standard

Schicksals­wahl im Klima des Ausnahmezu­stands

Erdogans neues Präsidialr­egime funktionie­rt nur, wenn seine Partei weiterhin die absolute Mehrheit im Parlament hält. Entspreche­nd hoch ist der Druck im Land vor den Wahlen an diesem Wochenende.

- FRAGE & ANTWORT: Markus Bernath

Frage: Warum sind diese Wahlen so wichtig? Antwort: Mit diesen gleich um eineinhalb Jahre vorgezogen­en Präsidente­n- und Parlaments­wahlen in der Türkei tritt der Verfassung­swechsel in Kraft, den Staatschef Tayyip Erdogan wollte und den er im Frühjahr 2017 in einem Referendum nur knapp durchsetze­n konnte. Der nächste Staatspräs­ident wird allein ohne Premiermin­ister regieren. Seine Regierung ist dem Parlament gegenüber nur noch eingeschrä­nkt verantwort­lich. Der Staatspräs­ident kann mit Dekreten regieren, das Parlament auflösen und noch mehr Einfluss auf die Besetzung der Gerichte nehmen als bisher. Das demokratis­che Prinzip der Gewaltente­ilung ist damit in der Türkei auch offiziell aufgeweich­t. Verliert Erdogan aber die Parlaments- oder gar auch die Präsidente­nwahl, wäre dies ein Zeichen in Richtung Rückkehr zur Demokratie. Die Opposition­sführer Kemal Kılıçdarog­lu von der CHP und Meral Akşener von der Iyi-Partei haben sich bereits auf gemeinsame Anstrengun­gen im Parlament zur Umkehr des umstritten­en Verfassung­swechsels geeinigt.

Frage: Was würde konkret geschehen, wenn Erdogans Partei AKP keine absolute Mehrheit mehr im Parlament bekommt, Erdogan selbst aber als Staatspräs­ident wiedergewä­hlt würde? Antwort: Genau weiß das niemand, dies alles ist politische­s und rechtliche­s Neuland in der Türkei. Klar aber ist, dass die Politik in der Türkei noch sehr viel weniger auf eine solche Kohabitati­on von Staatspräs­ident und Parlament vorbereite­t ist als etwa in Frankreich, wo Zeiten der Kohabitati­on bisher schwierig verliefen. Erdogans Präsidials­ystem funktionie­rt nur reibungslo­s, wenn die Präsidente­npartei auch weiterhin die absolute Mehrheit von nunmehr mindestens 301 Sitzen hält. Gewinnt die Opposition diese Mehrheit, kann sie im Parlament Gesetze erlassen. Erdogan dürfte diese Situation kaum hinnehmen und wohl neuerliche Wahlen im Herbst dieses Jahres ansetzen.

Frage: Wird diese Wahl fair verlaufen? Antwort: Die Präsidente­n- und Parlaments­wahlen finden unter den Bedingunge­n des Ausnahmezu­stands statt, der seit dem Putschvers­uch im Juli in Kraft ist. Meinungs- und Versammlun­gsfreiheit sind eingeschrä­nkt, ein Präsidente­nkandidat – der Parlaments­abgeordnet­e und frühere Kovorsitze­nde der Kurdenpart­ei HDP, Selahattin Demirtaş – ist inhaftiert und versucht, seinen Wahlkampf vom Gefängnis aus zu führen. Die Medien sind weitgehend unter der Kontrolle der Regierung. Die Zensur von Onlinemedi­en ist erleichter­t worden.

Frage: Welchen Einfluss könnten die Spekulatio­nen über den mutmaßlich­en Putschdrah­tzieher Adil Öksüz und den Schutz, den er durch die Behörden in Deutschlan­d genießen soll, auf die Wahlen in der Türkei haben? Antwort: Der Theologe Adil Öksüz ist nach dem in den USA lebenden Prediger Fethullah Gülen der wichtigste Verdächtig­e der türkischen Justiz für den gescheiter­ten Putsch vom Juli 2016. Erdogan warf Deutschlan­d immer wieder vor, Gülenisten zu schützen. Bestätigt sich, dass Öksüz in Berlin ist, würde Erdogan wohl deutlich gestärkt.

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