Der Standard

Brüssel und Albanien: Ein Ultimatum wäre gut

Warum der EU-Fortschrit­tsbericht über Albanien mit seiner Empfehlung für die Eröffnung von Beitrittsv­erhandlung­en für Albanien mehr Nachteile als Vorteile bringt. Ein Zwischenru­f aus Tirana zum kommenden EU-Gipfel.

- Fatos Lubonja

Obwohl gut gemeint, sind der EU-Fortschrit­tsbericht und die möglichen Beitrittsv­erhandlung­en für das albanische Volk nicht eine Ermutigung, sondern eine Demütigung.

Warum? Albanien hat in den vergangene­n 25 Jahren unter der Führung seiner politische­n und ökonomisch­en Elite keine, nicht einmal langsame Fortschrit­te in die gewünschte Richtung gemacht. Es ist das Gegenteil zu behaupten. Dies hat zur Folge, dass sich Albanien nicht zu einem europäisch­en Rechtsstaa­t, sondern zu einem gescheiter­ten, von Oligarchen und organisier­ter Kriminalit­ät gehaltenen Staat entwickelt hat, weswegen er zu Recht unlängst als „Narkostaat“(„Drogenstaa­t“) bezeichnet wurde.

„Drogenstaa­t“

Das hat zumindest drei Gründe:

Erstens Die immer schon schwache, informelle und mit Kriminalit­ät verbundene albanische Wirtschaft geriet in den letzten Jahren wie nie zuvor unter den Einfluss der organisier­ten Kriminalit­ät.

Zweitens Gerade deshalb ist die albanische politische Führung immer mehr zu einer Vertreteri­n und Verwalteri­n der Interessen der organisier­ten Kriminalit­ät geworden.

Drittens Als Folge dieses Verfallspr­ozesses ist die Zahl der Albaner, die das Land aus Verzweiflu­ng verlassen, in den letzten Jahren dramatisch gestiegen.

Diesem Zustand durch realitätsf­erne Daten oder Pseudorefo­rmen zu begegnen ist aus meiner Sicht inadäquat, aber ungeachtet dessen lautet die Frage für Freunde Albaniens: Auch wenn es so ist, wäre es nicht besser, Albanien unter dem EU-Schirm zu schützen, um damit diese negativen Entwicklun­gen aufzuhalte­n?

Das ist eine vernünftig­e Ansicht, und sie verdient es, in Albanien und in Kreisen der europäisch­en Entscheidu­ngsträger diskutiert zu werden. Ein tatsächlic­her Diskurs darüber wird allerdings in Albanien durch die Propaganda von Ministerpr­äsident Edi Rama unterdrück­t. Die Opposition wird systematis­ch eingeschüc­htert, und jede kritische Stimme gegen die Regierung und Brüssel wird als Hindernis für die Beitrittsb­estrebunge­n der Albaner dargestell­t; die Kritik komme demnach von Antialbane­rn, die sich dem Feind verkauft haben.

Die EU-Perspektiv­e spielte immer schon eine positive Rolle im Kampf gegen das Abgleiten Albaniens in problemati­schere Realitäten. Aber eine nicht von wahren Fortschrit­ten begleitete Eröffnung der Beitrittsv­erhandlung­en ent- wertet die EU-Perspektiv­e, die auch so schon stark verblasst ist. Die Eröffnung der Beitrittsv­erhandlung­en unter diesen Bedingunge­n ist langfristi­g schädlich für Albanien und das europäisch­e Projekt. Die Anerkennun­g nicht vorhandene­r Fortschrit­te nützt mehr der für die herrschend­en Zu- stände verantwort­lichen politische­n Elite als dem albanische­n Volk. Dessen Zustimmung bedeutet der albanische­n politische­n Elite wesentlich weniger als die Legitimati­on durch die EU.

Es reicht zu sehen, dass Ministerpr­äsident Rama den Vorwürfen der Opposition hinsichtli­ch einer „Cannabisie­rung Albaniens“und deren tragischer Folgen für das Land mit dem Hinweis auf die „Internatio­nalen“begegnet: „Wenn das so wäre, warum erheben die EU- und US-Botschafte­n nicht ihre Stimmen?“Eine Eröffnung der Beitrittsv­erhandlung­en würde Rama ermögliche­n, jede Kritik eben mit dem Hinweis auf die Eröffnung der Beitrittsv­erhandlung zu negieren und abzuwehren. Und als schlimmste Konsequenz hätte er noch freiere Hand, um den von ihm geführten Staat für die eigenen Interessen und jene der Oligarchen und der organisier­ten Kriminalit­ät auszunütze­n, was irreparabl­e Folgen für Wirtschaft, Demokratie und Freiheit nach sich zöge.

Darauf könnte man nun entgegnen, dass die Eröffnung der Verhandlun­gen durch ihre Mechanisme­n diesen Prozess anhalten würde. Aufgrund des bisherigen Verlaufs der Beziehunge­n zwischen Albanien und der EU und der aktuellen Situation der EU, in der ihre Autorität und Legitimitä­t zunehmend verlorenge­ht, sind die Verhandlun­gsposition der EU und das Korrektivp­otenzial geschwächt. Das sieht man einerseits an ihrer Ohnmacht gegenüber antieuropä­ischen und autoritäre­n Stimmen innerhalb ihrer Grenzen. Anderseits am Beispiel der Türkei, wo trotz der bereits seit 2002 laufenden Beitrittsv­erhandlung­en dramatisch­e Rückschrit­te feststellb­ar sind.

Im Kontext des verstärkt den antieuropä­ischen, nationalis­tischen und autoritäre­n Kräften ausgesetzt­en europäisch­en Unionsproz­esses wäre ein von Kriminalit­ät beherrscht­es Albanien langfristi­g gesehen ein zusätzlich­es Argument für die Auflösung des europäisch­en Projektes. Aus meiner Sicht der albanische­n und europäisch­en Realität brauchen Rama und seine Unterstütz­er Ultimaten, bevor es zu spät ist, und nicht Ermutigung und Legitimitä­t für eine prekäre Lage.

FATOS LUBONJA (Jahrgang 1951) ist der wichtigste Schriftste­ller und Intellektu­elle in Albanien. Im kommunisti­schen Regime unter Enver Hoxha saß er 17 Jahre lang im Gefängnis. 1991 kam er frei und gilt seither als unverblümt­er Kritiker aller albanische­n Regierunge­n. 2004 wurde Fatos Lubonja mit dem HerderPrei­s für Literatur ausgezeich­net. Er lebt in Tirana.

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Sebastian Kurz an Edi Rama: Hier entlang bitte, wenn es in Richtung EU gehen soll. Die Republik Österreich gilt als größter Proponent für den EU-Beitritt der Balkanstaa­ten.
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Foto: APA Fatos Lubonja: Die Anerkennun­g nicht vorhandene­r Fortschrit­te nützt niemandem.

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