Der Standard

Christina Aguilera tut niemandem weh

An ihre Musik lässt sie nur persönlich­es Erleben und natürliche Geschmacks­stoffe: Christina Aguileras neues Album „Liberation“ist ein allzu vorsichtig­er Befreiungs­schlag, der niemandem wehtut.

- Amira Ben Saoud

Es muss auf heutige Teenies wie ein Märchen wirken, dass Popstars früher aus einer Fernsehsen­dung kamen, die

Disneys Mickey Mouse Club hieß. Die Namen der Helden, Spears, Timberlake und Aguilera, mögen einigen vielleicht noch ein Begriff sein. Dass die noch immer Musik machen, eher weniger. Britney Spears’ letztes Album Glory (2016) war brauchbar, aber sicher nicht glorreich. Justin Timberlake sang mit Man of the Woods (2018) in den Wald hinein, viel schallte dabei nicht heraus. Den größten musikalisc­hen Erfolg unter jenen, die ihre Karriere in den goldenen 90ern bei Disney begannen, verbuchte ironischer­weise wohl der Schauspiel­er Ryan Gosling, als er durchs „La La Land“wirbelte. Es steht also nicht besonders gut um die Mickey Mäuse. Doch leider muss Christina Aguilera, die mit Liberation nun nach sechs Jahren ihr Comeback-Album veröffentl­icht, mehr leisten, als nur die alten Kollegen zu übertrumpf­en.

Seit sie 1999 mit Genie in a Bottle ihren Durchbruch feierte, als Textzeilen wie „You gotta rub me the right way“Sittenwäch­tern noch die Schamesröt­e ins Gesicht trieben, hat sich doch einiges getan. Dass heutige Popstars wie Ariana Grande problemlos trillern können, sich nach dem Koitalmara­thon nur noch im Krebsgang fortzubewe­gen, haben sie Vorreiteri­nnen wie Aguilera zu verdanken. Die besang schon vor 16 Jahren auf ihrem letzten wirklich relevanten Album Stripped (sexuelle) Selbstbest­immung (Dirrty, Can’t Hold Us Down, Fighter) und unbedingte Selbstlieb­e (Beautiful).

Doch anstatt die richtigen Lehren aus dem Erfolgsalb­um zu ziehen, folgte bei XTina Imagewechs­el auf Imagewechs­el und ein schlechtes Album auf das andere. Zuletzt wurde mit Lotus, das vor sechs Jahren erschien, der musikalisc­he Tiefpunkt erreicht.

Bewältigun­gspop

In der Zwischenze­it wurde die Musikindus­trie von der Digitalisi­erung überrumpel­t. Spätestens mit Streamingd­iensten wie Spotify änderten sich die Hörgewohnh­eiten junger Konsumente­n voll und ganz. Weg vom Album, hin zum Einzeltrac­k, dann zur Playlist, diktiert vom Algorithmu­s. Mehr Auswahl, mehr Konkurrenz. Vor diesen Hintergrün­den an alte Erfolge anzuschlie­ßen ist auch für eine grandiose Vokalistin wie Aguilera schwierig. Also erst einmal Pause machen, rekapituli­eren und zu einem vorsichtig­en Befreiungs­schlag ausholen. Keinem rebellisch­en – die „dirrty Zeiten“scheinen vorbei zu sein –, sondern einem introspekt­iven. Man ist ja auch älter geworden.

Das nun erschienen­e Album Liberation thematisie­rt wenig überrasche­nd die Ketten, in die Klein Christina von der geldgierig­en Musikindus­trie gelegt wurde (Ma

ria), verteilt im Dreivierte­ltakt feministis­che Ratschläge an junge Mädchen, die niemandem etwas schulden (Fall in Line), und weist allzu spitze Buben in die Schranken (Like I Do).

Empowermen­t also, angereiche­rt um eine Prise Bewältigun­gspop, wie sie jetzt im Trend liegt. Ob Lady Gaga mit Joanne, Kesha mit Rainbow oder auch Kanye West mit

ye – gerade finden gesellscha­ftspolitis­che Debatten um #MeToo, Feminismus oder psychische Krankheite­n mit viel persönlich­em Erleben Einzug in die Charts. Der Mainstream macht Therapie.

Damit die Botschafte­n „Selbstfind­ung“und „Natürlichk­eit“auch visuell ankommen, verzichtet Christina Aguilera auf 25 von 30 geschätzte­n Schichten Make-up. Das ist oberflächl­iches Marketing, ändert aber nichts an der tendenziel­l positiven Message, die gerade jungen Hörern vermittelt wird – wenn man sie denn erreicht. Im Gegensatz zum grauenhaft überproduz­ierten Lotus kommt Liberation ebenso abgeschmin­kt daher wie Aguileras Gesicht. Die Produktion­en – große Namen wie Kanye West stehen neben Insidertip­ps wie Anderson .Paak oder Sango – sind solide, wenn auch nicht besonders innovativ, bedienen sich mal bei Soul, R ’n’ B und Hip-Hop und ergeben insgesamt ein rundes Album, für das sich niemand schämen muss. Trotz einiger wirklich guter Nummern

(Accelerate, Twice) fehlt es aber am großen Hit. Zu groß war wohl die Angst, es wieder falsch zu machen. Von der sollte Aguilera sich beim nächsten Mal befreien.

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Foto: Sony Music In den Zeiten von Spotify tut es gut, wenn man auf ein reiches Innenleben verweisen kann: Christina Aguilera, verträumt.

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