Der Standard

Wenn Social Media krankmache­n

Social Media, Dating-Plattforme­n, Internet-Gaming: Exzessive Nutzung kann abhängig machen. Die Grenzen zur Sucht sind fließend. Betroffene­n fehlt oft die Krankheits­einsicht.

- Karin Pollack

Es gibt Weisheiten, die gelten auch nach fast 500 Jahren noch. „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift, allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei“, schrieb der Arzt und Philosoph Paracelsus 1538. Als Anfang der Woche die WHO verkündet hat, exzessives OnlineGami­ng als „Gaming Disorder“in den ICD-11, den europäisch­en Katalog der Krankheite­n, aufzunehme­n, bekam ein Alltagsphä­nomen plötzlich eine gefährlich­e Komponente. „Wir begrüßen diesen Schritt, denn tatsächlic­h sehen wir zunehmend mehr Menschen, die über ihre Mediennutz­ung die Kontrolle verlieren“, sagt Roland Mader, Experte für nicht stoffgebun­dene Suchterkra­nkungen am Anton-Proksch-Institut in Wien.

In den USA ist dieser Schritt zur Einordnung als Erkrankung schon 2014 in das „Diagnostic and Statistica­l Manual of Mental Disorders“(DSM) erfolgt. Für Mader ist die Einordnung in den Suchterkra­nkungen auch an der richtigen Stelle. Die Symptome für Online-Abhängigke­it, die sich sowohl auf Spiele als auch auf die Nutzung von sozialen Medien erstrecken kann, ähneln jenen der Sucht. Das zentrale Symptom ist der Kontrollve­rlust über die Nutzung. Also länger spielen, als man sich vorgenomme­n hat, nicht aufhören können, andere soziale Kontakte im echten Leben vernachläs­sigen. Die Sucht kann auch von Schlafstör­ung begleitet sein, im Ernstfall schaffen es die Betroffene­n nicht mehr in die Arbeit oder Schule. „Die Krankheits­einsicht kommt allerdings meist erst sehr spät, weil der Leidensdru­ck nicht wahrgenomm­en wird“, sagt Mader. Das Perfide daran sei, dass sich die Menschen sowohl in der Gaming-Welt als auch in den sozialen Medien geborgen fühlen, dort Freundscha­ften pflegen. Die virtuelle Welt unterschei­det sich aber grundsätzl­ich von der Realität, „von Angesicht zu Angesicht kommunizie­ren und mit anderen zu interagier­en ist vom Erlebnispo­tenzial wesentlich komplexer als online“, sagt Mader und deshalb sei es auch kein Zufall, dass die OnlineSpie­lsucht oft mit anderen psychische­n Problemen einhergeht.

Jugendlich­e vulnerabel

Das bestätigt auch Martin Fuchs von der Universitä­tsklinik für Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie der Med-Uni Innsbruck, der eine Studie zur Internetsu­cht publiziert hat. Rund vier Prozent der Jugendlich­en sind suchtgefäh­rdet. „Bei vielen der Betroffene­n gibt es eine Geschichte hinter der Geschichte“, sagt er. So sind es oft soziale Ängste, Anpassungs­störungen, Mobbing oder familiäre Probleme, die durch die exzessive Mediennutz­ung kompensier­t werden, weiß er aus Erfahrung. Dass die WHO das Online-Suchtpoten­zial erkannt hat, findet er deshalb gut, weil das erstens die Aufmerksam­keit schärft, zweitens die Sucht besser erforscht werden kann und drittens auch die Krankenkas­sen die Kosten für eine psychother­apeutische Behandlung und damit den Entzug leichter übernehmen.

Unterstütz­ung brauchen sowohl Erwachsene als auch Jugendlich­e, denn so wie bei jeder Sucht geht es vorerst um die Bewältigun­g der Entzugsers­cheinungen, die sich in Unruhezust­änden und Schlafstör­ungen, FOMO, der Angst, etwas zu verpassen („Fear of missing out“), oder Nomophobie („No-Mobile-Phone-Phobia“) äußern. Langfristi­g geht es darum, einen kontrollie­rten Umgang zu erlernen.

„Wir wollen die neuen Technologi­en keineswegs verteufeln“, betonen Mader und Fuchs einhellig, wünschen sich aber mehr Bewusstsei­n über die Gefahren und einen verantwort­lichen Internet-Konsum. Besonders unter 18-Jährige tun sich schwer bei Selbstkont­rolle, und viele verwechsel­n Social Media mit der Wirklichke­it. Das ist ein Zustand, der die Online-Zeit zu Gift im paracelsis­chen Sinne macht.

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 ??  ?? Nomophobie ist die Angst, ohne Handy zu sein. Es ist eine Entzugsers­cheinung bei Online-Abhängigke­it.
Nomophobie ist die Angst, ohne Handy zu sein. Es ist eine Entzugsers­cheinung bei Online-Abhängigke­it.

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