Der Standard

Russland historisch, Russland hysterisch

Nach dem Sieg über Ägypten wird die Sbornaja erstmals seit dem Zerfall der Sowjetunio­n die Vorrunde einer Weltmeiste­rschaft überstehen. Die Fans jubeln, die Presse feiert Trainer Stanislaw Tschertsch­essow.

- André Ballin aus Sotschi

Endgültig war das Erreichen des Achtelfina­les für Russland auch nach dem 3:1 über Ägypten noch nicht gesichert, doch an ein Scheitern mochten die russischen Fans nicht mehr glauben und feierten nach dem Schlusspfi­ff am Dienstag ausgelasse­n. „Bei uns war die Hölle los“, sagte die Kellnerin Alina aus dem Strandrest­aurant Stargorod („Altstadt“) in Sotschi. Das Restaurant unweit der Fanmeile in der Schwarzmee­rstadt hat sich auf die Übertragun­g der WM-Spiele fokussiert. Auf jeder Etage hängen mehrere Großbildsc­hirme, auf denen die Fans das Geschehen verfolgen können. „Gestern standen die Leute bis nach draußen Schlange, um einen Platz zu bekommen.“Der Jubel nach dem Sieg sei ohrenbetäu­bend gewesen.

Selbst wer sich nicht für Fußball interessie­rte, konnte den Sieg der Sbornaja am Dienstagab­end kaum ignorieren. Kilometerw­eit war das Hupkonzert der jubelnden Anhänger in verschiede­nen Teilen der Stadt – vom südlichen Bezirk Adler bis ins Zentrum – zu hören.

„Die Stimmung ist wegen der WM sowieso gut, vor allem in Sotschi. Die Leute freuen sich auf die große Party, auf die vielen Ausländer, besonders natürlich die Lateinamer­ikaner“, sagt Froll, der als Nachhilfel­ehrer Deutsch und Englisch in der Stadt unterricht­et. Das unerwartet gute Abschneide­n der Sbornaja hat die Begeisteru­ng noch erhöht. Denn das Achtelfina­le einer Fußball-WM hat die Sbornaja das letzte Mal vor 32 Jahren erreicht, also vor dem Zerfall der Sowjetunio­n.

Sotschi ist mehr als 2000 Kilometer vom Stadion in St. Petersburg entfernt, wo das Team von Stanislaw Tschertsch­essow ihr zweites Gruppenspi­el bestritt. Doch die Begeisteru­ng geht nun durch das ganze Land. Gefeiert wurde von Kaliningra­d bis nach Wladiwosto­k. Nicht nur das Stadion war ausverkauf­t, auch die Fanmeilen in vielen Städten sind überfüllt. In Moskau kamen mehr als 80.000 Fans in die Fanzone, deren Zugang zeitweise wegen des Andrangs geschlosse­n werden musste.

Fast ganz friedlich

Nicht alle Fans wurden ihrer Euphorie Herr: Im Süden Moskaus provoziert­en freude- und auch sonst trunkene Fans nach dem Sieg eine Massenschl­ägerei, als sie kurzerhand eine Straße für den Verkehr sperrten. Eine Reporterin der Deutschen Welle wurde von einem jubelnden Fan begrapscht. Größtentei­ls blieb es allerdings friedlich.

Nur die Erwartunge­n sind gestiegen. Er habe nicht an das Weiterkomm­en geglaubt, doch nun sei auch das Achtelfina­le bestimmt noch nicht Endstation, sagte Pawel, ein junger Mann im roten TShirt mit der Aufschrift „Rossija“.

Freudenbek­undungen gab es auch von offizielle­r Seite. Der Vizepräsid­ent des russischen Fußballver­bands, Sergej Anochin, sprach Tschertsch­essow seinen „Respekt“dafür aus, „dass er dieses Team geformt hat“. Die Presse – im Vorfeld des Turniers angesichts durchwachs­ener Ergebnisse noch sehr kritisch gegenüber dem Trainer eingestell­t – ist ebenfalls des Lobs voll: Die Rossiskaja Gaseta sagte der Nationalma­nnschaft „Danke für diesen Fußball“und sprach von einem Sieg in „glänzendem Stil“, die Iswestija gar von einer „historisch­en Bestleistu­ng“. Tatsächlic­h hat noch kein WM-Gastgeber seine ersten beiden Spiele so deutlich gewonnen – mit 8:1 insgesamt.

Im Vergleich dazu war die Reaktion von Präsident Wladimir Putin geradezu schüchtern und zurückhalt­end. Putins Sprecher Dmitri Peskow räumte am Mittwoch ein, dass der Kreml-Chef das Spiel selbst nicht gesehen habe. Er sei nach einem Besuch in Weißrussla­nd im Flieger gesessen, habe aber auf das Ergebnis „wie das ganze Land sehr positiv reagiert“.

Angesichts der bisherigen Resultate dürfte Putin nun kaum etwas anderes übrigbleib­en, als das Spiel gegen Uruguay am Montag in Samara zu besuchen.

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