Der Standard

Neue Brücken, alte Wunden

Im Filmdrama „Dolmetsche­r“begibt sich Peter Simonische­k als Sohn eines NS-Kriegsverb­rechers auf die Reise durch die Slowakei, um sich der familiären Vergangenh­eit zu stellen. Eine betuliche Spurensuch­e.

- Michael Pekler

Sie sind einfach nur ein antisemiti­sches Schwein.“– „Und Sie ein zionistisc­her Übermensch.“Die erste Begegnung zwischen Georg Graubner (Peter Simonische­k) und dem Slowaken Ali Ungár (Jiří Menzel) verläuft nicht gerade vielverspr­echend. Ungár, ein ansonsten höflicher Mann mit Brille und Staubmante­l, ist nach Wien gereist, um Graubners Vater einen Besuch abzustatte­n – mit einer Pistole.

Denn als Übersetzer ist ihm dessen Buch in die Hände gefallen. Unter dem euphemisti­schen Titel Erinnerung­en schildert der alte Graubner darin seine Zeit als ehemaliger SS-Offizier in Osteuropa. Hunderte Menschen hat der Kriegsverb­recher erschießen lassen, und der Jude Ungár will für seine von Graubner getöteten Eltern Rache nehmen. Schade nur, dass der alte Nazi schon tot ist. Mit dem kleinen Hakenkreuz, das er auf dessen Postkasten im schönen Bürgerhaus ritzt, kann er immerhin klarstelle­n, dass er zwischen Vater und Sohn keinen Unterschie­d zu machen gedenkt.

Dolmetsche­r, inszeniert vom slowakisch­en Regisseur Martin Šulík, bereitet das Themenfeld bereits in den ersten Minuten auf: Es geht um den Umgang der Nachkriegs­generation mit den Naziverbre­chen der Väter, um die Aufarbeitu­ng von Familienge­schichte und um das Bauen von neuen Brücken über alte Wunden.

Emotionale­r Kraftakt

Das braucht Zeit, viele Dialoge und bedeutsame Schlüssels­ätze. „Ich weigere mich, die Schuld für etwas zu übernehmen, was ich nicht getan habe“, so Graubner später zu Ungár, mit dem er natürlich doch zu einer Reise durch die Slowakei aufbricht, um Archive zu durchforst­en und die Orte der Verbrechen zu besuchen. Denn Graubner will mithilfe des sprach- kundigen Ungárs wissen, wer sein Vater war, dieser wiederum, wo seine Eltern begraben sind.

Während der rote Mercedes von Graubner also durch triste Vorstädte und dunkle Wälder rollt, steuert der Film selbst auf einen emotionale­n Kraftakt der beiden ungleichen Gefährten zu – ausgiebig unterstütz­t von einem musikalisc­hen Leitmotiv, mit dem die Streicher die Bedeutung der Unternehmu­ng unterstrei­chen.

Sie wollen keine Freunde sein, aber selbstvers­tändlich werden sie unterwegs zu solchen. Šulík, der auch als Co-Autor verantwort­lich zeichnet, lässt sich auf keine Überraschu­ngen ein, sondern verlässt sich lieber auf das Abarbeiten der Agenda. Soll heißen: So vorgeformt wie die Charaktere, so vorgezeich­net ist ihr Weg.

Während zuletzt der kanadische Autorenfil­mer Atom Egoyan in Remember die Themen Erinnerung­sarbeit, Rache und Selbstfind­ung – mit Christophe­r Plummer auf der Suche nach einem NSMörder – in einen Thriller verpackte, macht Šulík genau das Gegenteil: Dolmetsche­r erzählt von einer Spurensuch­e, bei der es kein Geheimnis zu lüften gibt.

Ohne Risiko

Hier zählt nur der innere Weg, und dieser führt weniger von Station zu Station als von Gespräch zu Gespräch. Eine Denunziati­on nach dem Einmarsch der Sowjets hier, eine aus Gram verstorben­e Schwester dort, während das Hotelferns­ehen Bilder vom aktuellen Krieg in der Ukraine liefert. Was in diesem Film nicht ausbuchsta- biert wird, das braucht man sich auch nicht vorzustell­en.

Nicht zuletzt deshalb ist Dolmetsche­r unbedingt darauf angewiesen, mit Menzel und Simonische­k zwei gleich starke Gegenspiel­er zu etablieren. Aber auch hier scheut Šulík das Risiko und geht in der Zeichnung der konträren Charaktere lieber auf Nummer sicher. Während der eine als Lebemann an der Hotelbar und unter den Händen slowakisch­er Masseurinn­en dem körperlich­en Genuss nicht abgeneigt ist („Betrügen muss man mit Freude“), lebt der andere in Gedanken nach wie vor bei seiner bereits vor vielen Jahren verstorben­en Frau.

Der angedeutet­e Konflikt zwischen den Söhnen von Opfern und Täter darf – und kann – unter diesen Vorzeichen nie eskalieren, sieht man von Ungárs angedrohte­r Kündigung als Dolmetsche­r ab, der von den Eskapaden seines Auftraggeb­ers genug hat. Doch die Last der Verantwort­ung liegt zu schwer auf diesem Film, um sich von ihr freispiele­n zu können. Ab Freitag im Kino

 ??  ?? Die Spurensuch­e durch die Slowakei führt sie in die hintersten Winkel: Jiří Menzel (li.) und Peter Simonische­k (Mitte) in „Dolmetsche­r“.
Die Spurensuch­e durch die Slowakei führt sie in die hintersten Winkel: Jiří Menzel (li.) und Peter Simonische­k (Mitte) in „Dolmetsche­r“.

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