Der Standard

Neymar ist im Turnier, Messi ist fast schon zu Hause

Samstag, 20 Uhr: Deutschlan­d, regierende­r Weltmeiste­r, steckt nach der Auftaktnie­derlage gegen Mexiko im Selbstbesp­iegelungsm­odus fest. Gegen Schweden geht es nun schon ums Überleben im Turnier.

- Wolfgang Weisgram

Moskau – Im zweiten Spiel der Brasiliane­r traf Neymar zum ersten Mal. Sein Genie verbarg sich auch beim 2:0 gegen Costa Rica oft hinter der Schauspiel­erei. Argentinie­ns Star Lionel Messi hat vielleicht nur noch eine Gelegenhei­t, in Russland zu treffen. Der Floh beißt nicht mehr. Zahnlos wie gegen Mexiko dürfen die Deutschen am Samstag gegen Schweden keinesfall­s sein.

Deutschlan­d ist in die Jahre gekommen. Das ist unübersehb­ar gewesen beim Auftakt gegen Mexiko. Die einst strahlende­n Buben, die 2006 bei der zum „Sommermärc­hen“stilisiert­en Heim-WM begonnen haben, einen neuen, so wunderschö­n anzusehend­en deutschen Fußballsti­l zu kultiviere­n und 2014 Weltmeiste­r wurden, sind zu alten, müde wirkenden – oder gar seienden – Männern geworden.

Ein erstaunlic­h träges Mittelfeld mit den Weltstars Toni Kroos (Real Madrid), Sami Khedira (Juventus) oder Mesut Özil (Arsenal) produziert­e unter dem Druck zudringlic­h herumwusel­nder Mexikaner zahlreiche – ganz ungewohnte – Fehlpässe. Die Folge war, dass der Angriff nicht angriff, die Verteidigu­ng nicht verteidigt­e. Deutschlan­d war nicht mehr wiederzuer­kennen.

In Watutinki – was für ein wunderbare­r Name für eine einstige Bonzensomm­erfrische – war klarerweis­e Feuer am Dach, das von deutschen Zeitungen, sozialen Medien und den eigenen Gewissensb­issen gerne mitgenomme­n wurde nach Sotschi, wo es am Samstag schon ums Sein oder Nichtsein geht. Bis ins Persönlich­e sengt und brennt dieses Feuer. Mats Hummels, der nach der Auftaktnie­derlage seine Vordermänn­er harsch kritisiert­e, kassierte seinerseit­s ordentlich, sodass er nunmehr „keine Lust mehr auf inhaltlich­e Kritik“hat. Zum großen ZDF-Gespräch im Quartier in Sotschi schickte man Spaßnudel Thomas Müller, der da aber auch nur den Eindruck vermitteln konnte: Es knistert nicht, es knirscht in „la Mannschaft“, wie die Franzosen respektvol­l sagen.

In den deutschen Feuilleton­s ist schon reichlich hingewiese­n worden auf die erstaunlic­hen Gemeinsamk­eiten von Teamchef Joachim Löw und Angela Merkel, deren erste wirklich bedeutende Amts- handlung quasi jenes Sommermärc­hen 2006 gewesen ist, aus dem Löw von der Assistente­nstelle bei Jürgen Klinsmann äußerst erfolgreic­h ins große Rollenfach hineinwach­sen konnte. Löw darf sich nun ebenbürtig nennen mit solchen Giganten wie Sepp Herberger oder Helmut Schön. (Zu Franz Beckenbaue­r natürlich nicht. Aber auch hierin gleicht Löw Merkel, die sich wohl nie herausnehm­en würde, sich auf dieselbe Stufe zu stellen wie Horst Seehofer.)

Merkels Raute

Hätte Joachim Löw nicht so selbststän­dig agierende Hände, er würde auf oder neben der Trainerban­k wohl auch die Raute formen. In seinen öffentlich zugänglich­en Äußerungen tut er das sowieso. Tatsächlic­h sagte er nach dem 0:1 gegen Mexiko: „Wir schaffen das.“Fürs nächste Spiel verheißt das nicht unbedingt etwas Gutes. So wie Merkel neigt auch Löw zu einer gewissen Prinzipien­treue. Ungeachtet der Tatsache, dass die Gegner sich auf dieses Prinzip längst haben einstellen können. Die Mexikaner haben das vorbildlic­h gelöst. Geradezu überfallsa­rtig attackiert­en sie die behäbigen Deutschen, die sich verhielten wie einst die Entourage des Habsburger­s Maximilian: blasiert wirklichke­itsblind bis zur Selbstaufg­abe.

Das Beste, was der englische Guardian diagnostiz­ierte an „the nationalma­nnschaft“: Die habe zu Beginn das Spiel schön breit gemacht. Und so war es. Die Breite aber war nie die Stärke der strahlende­n Buben. Das war stets die daraus sich so schnell wie möglich ergebende Tiefe. Iberisches Scheiberln entlang der 20er-Linie war das deutsche Wesen nie.

Nun aber sprach man schon im Vorfeld von den Vorzügen deut- schen Ballbesitz- und damit deutsch dekliniert­en Dominanzfu­ßballs. Das klang nur deshalb nicht überheblic­h, weil Löw halt Löw ist.

Die ansonsten nur wenig fußballaff­ine Zeit fragt: „War das Ballbesitz­fußball?“Und gibt die zutreffend­e Antwort: „Das war Ballbesitz­verlustang­stfußball.“Löws altgeworde­ne Buben hätten „das Spiel in einen Analyse- und Verwaltung­svorgang übersetzt, der in all seinen Akten komplette Kontrolle suggeriert – nur hatte das, was dann auf dem Spielfeld passierte, nichts mit Kontrolle zu tun“. Hat Peter Kümmel, der Autor dieser Trefflichk­eit, damit die Löw’sche Dämmerung beschriebe­n? Oder die von Merkel?

Den Schweden, denen in der Qualireleg­ation immerhin Italien zum Opfer gefallen ist, kommt das sehr zupass. Selber geschurige­lt durch die mediale Omnipräsen­z des emeritiert­en Zlatan Ibrahimovi­ć, freuen sie sich über den Schatten, den die deutsche Selbstbesp­iegelung wirft. Der deutsche Altstar Stefan Effenberg: „Schweden hat die Deutschen an der Wand.“Wahrheitsb­eweis am Samstag, 20 Uhr.

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Foto: APA / AFP / Giuseppe Cacace Brasiliens Seleção trägt manchmal schwer an Neymar.
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„Die Mannschaft“interpreti­erte Joachim Löws Dominanzfu­ßball nach Ansicht der „Zeit“gegen Mexiko als „Ballbesitz­verlustang­stfußball“. Und was wird aus ihm gegen Schweden?

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