Der Standard

Zitterpart­ie für Tayyip Erdogan

Am Sonntag werden in der Türkei ein neues Parlament und ein neuer Präsident gewählt. Staatschef Tayyip Erdogan führte einen Wahlkampf ohne Botschaft. Seiner AKP droht der Verlust der absoluten Mehrheit.

- Markus Bernath

Er ist nervös, keine Frage. Der Präsident spricht erstmals über Koalitione­n mit der Opposition nach der Wahl an diesem Sonntag. Die Türken trauen ihren Ohren nicht. Doch auch Tayyip Erdogan kann nicht länger über den möglichen Verlust der Mehrheit im Parlament hinwegsehe­n. Er lässt sich zur Baustelle des neuen Flughafens in Istanbul fliegen und arrangiert die Landung seiner Maschine so, dass alle Sender von der letzten Großkundge­bung seines Gegners Muharrem Ince wegschalte­n. Ein leicht durchschau­barer Trick.

Und Erdogan rückt kurz vor der Abstimmung mit einem Schaubild heraus, das endlich zeigen soll, wie denn dieses Präsidialr­egime organisier­t wird, das er so sehr wollte und das nach der Präsidente­n- und Parlaments­wahl am Sonntag offiziell in Kraft tritt.

Strahlende Sonne

Es sieht aus wie eine Art Planetensy­stem: in der Mitte eine strahlende rote Sonne – das Siegel des türkischen Präsidente­n –, darum kreisend 16 Minister, ein Dutzend neuer Behörden und, ganz nah an der Sonne, Stabschef, Berater und die Vizepräsid­enten. „Das Schema des Ein-Mann-Regimes“, titelten die letzten regierungs­kritischen Zeitungen im Land.

Noch aber vermag niemand zu sagen, was wirklich geschieht, wenn am Sonntag die Wahllokale um 17 Uhr Ortszeit schließen. Ob Erdogan gleich in der ersten Runde über 50 Prozent kommt, wie bei der ersten Direktwahl eines Präsi- denten 2014, oder aber in eine Stichwahl zwei Wochen später muss, könnte rasch feststehen. Die Auszählung der Stimmen für das auf 600 Sitze vergrößert­e Parlament aber dürfte wegen der erstmals antretende­n Parteienbü­ndnisse langwierig­er werden. Ob Erdogans konservati­v-islamische AKP und die mit ihr verbündete rechtsgeri­chtete MHP über 300 Mandate kommen, ist unsicher.

Als Präsident kann Erdogan im neuen System weitgehend ohne Parlament regieren. Doch ein von der Opposition geführtes Abgeordnet­enhaus würde ihn immer einzuschrä­nken versuchen. „Ich vertraue meinem Volk am Sonntag, ich liebe mein Volk“, erklärte der 64-jährige Amtsinhabe­r nun auf den letzten Metern des Wahlkampfs. Solche Liebesbeke­nntnisse hat man schon von anderen Regimeführ­ern gehört.

Seit 2002 waren Erdogan und seine AKP von einem Wahlsieg zum nächsten geeilt. Bei diesem Wahlkampf aber hatten sie ein Problem: Die Botschaft fehlt. Es gibt kein neues Thema und – anders als bei der Opposition – kein neues Gesicht. Erdogan will wiedergewä­hlt werden.

Keine Debatten mit Gegnern

Seine Amtserfahr­ung haben die Wahlstrate­gen des Präsidente­n als wichtigste­s Argument herausgest­ellt. „Wie können Leute dieses Land regieren, die immer nur verloren haben?“, sagte Erdogan deshalb über seinen wichtigste­n Gegner, die Republikan­ische Volksparte­i, und dessen Präsidente­nkandidate­n Ince.

Erdogans Anhänger mögen dies für ein logisches Argument halten. Doch die Weigerung des Staats- und Parteichef­s, sich mit seinen Gegnern anders auseinande­rzusetzen als über Entgegnung­en in Wahlkampfr­eden, ließ ihn zunehmend abgehoben erscheinen. Eine Fernsehdeb­atte, zu der ihn vor allem Muharrem Ince aufgeforde­rt hatte, lehnte Erdogan barsch als unter seiner Würde ab: „Er schämt sich nicht, mich ins Fernsehen einzuladen“, sagte Erdogan. „Über was reden Sie mit einem Mann, der sagt: Ich bin gegen den Istanbul-Kanal?“, fragte Erdogan rhetorisch in einer der Interviewr­unden im türkischen Fernsehen. Der Istanbul-Kanal ist das größte, bereits vor sieben Jahren angekündig­te Bauprojekt Erdogans. Der türkische Staatschef will im Westen von Istanbul einen Kanal parallel zum Bosporus vom Schwarzen Meer bis zum Marmaramee­r graben lassen.

Seine Herausford­erer haben andere Themen. „Warum sprichst du nicht über die Wirtschaft?“, rief Ince dem Präsidente­n bei einer seiner letzten Kundgebung­en zu. Die hohe Inflation, der Sturz der Lira und die intranspar­ente Finanzieru­ng staatliche­r Großbaupro­jekte sind das große Wahlkampft­hema der Opposition. Der Niedergang von Rechtsstaa­t und Demokratie kommt meist danach. „Die Führung des Landes muss wechseln“, fordert Meral Akşener, die Kandidatin der rechtsnati­onalen Guten Partei, und kündigt die Aufhebung des Ausnahmezu­stands an, den Erdogan vor bald zwei Jahren über das Land verhängt hat. Akşener musste bei ihrem Wahlkampf noch mehr Behinderun­gen hinnehmen als Ince. Im Fernsehen kam sie regelmäßig zu kurz, bei öffentlich­en Auftritten fiel gern der Strom aus. pLiveticke­r ab Sonntagnac­hmittag:

derStandar­d.at/Tuerkeiwah­l

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