Der Standard

Lepra, die vergessene Krankheit

Brasilien ist nach Indien mit jährlich 26.000 neuen Fällen das Land mit den meisten Lepra-Infektione­n weltweit. Eigentlich könnte die Krankheit längst ausgerotte­t sein – doch es fehlt der politische Wille.

- Susann Kreutzmann aus São Paulo

Gelb und blau getünchte Baracken säumen den Weg. Die meisten von ihnen sind zugesperrt. Am Ende des Weges steht ein zerfallene­s Kino. Nur einige Kinder des anliegende­n Dorfes kicken auf einem gepflegten Fußballpla­tz. Auch dieser gehört zu der ehemaligen Lepra-Kolonie Mogi das Cruzes, in der bis in die 1990er-Jahre Erkrankte zwangsinte­rniert wurden. Mehr als 4000 Menschen lebten in der Siedlung, die rund 70 Kilometer von der Metropole São Paulo entfernt liegt – abgeschott­et und ohne Kontakt zur Außenwelt.

„Ich denke, Gott hat uns vergessen“, sagt der 80-jährige Reginaldo. Er ist einer von rund 60 verblieben­en Patienten. „Wo soll ich hin?“, fragt der ehemalige Landarbeit­er, der verkrüppel­te Füße und Schmerzen am ganzen Körper hat. „Wir wurden wie Aussätzige behandelt.“Vor mehr als 50 Jahren wurde er in Mogi das Cruzes zwangseing­ewiesen. Seine Frau, die er in der Kolonie kennenlern­te, ist bereits verstorben. Familienan­gehörige hat er nicht mehr. Nach Schätzunge­n der Selbsthilf­egruppe Morhan teilen mehr als 3500 ehemalige Lepra-Patienten in ganz Brasilien das Schicksal von Reginaldo.

Morhan kämpft dafür, dass die Zwangseinw­eisungen als Verbrechen des Staates anerkannt werden. Doch für viele inzwischen hochbetagt­e Betroffene kommt eine Wiedergutm­achung zu spät.

Isolierte Heime

Viele Brasiliane­r kennen die Geschichte­n der ehemaligen Lepra-Kolonien. Seit den 1940erJahr­en wurden isolierte Heime im ganzen Land errichtet und erst in den 1990er-Jahren offiziell geschlosse­n. Damit ist aber auch für viele Brasiliane­r die Krankheit aus dem Gedächtnis verschwund­en. Dabei hat das südamerika­nische Land nach Indien die höchste Zahl an Neuinfekti­onen weltweit. Jährlich erkranken offiziell rund 26.000 Menschen an einer Krankheit, die längst ausgerotte­t sein könnte. „Die Dunkelziff­er ist mindestens doppelt so hoch“, sagt Reinaldo Bechler von der Deutschen Lepra- und Tuberkulos­ehilfe (DAHW) in Brasilien. „Die Regierung ist nicht ehrlich genug und möchte die Krankheit am liebsten verschleie­rn.“Der „größte Skandal“ist für ihn, dass jährlich auch 3000 Kinder mit Lepra infiziert werden. Aufgrund der langen Inkubation­szeit von bis zu zehn Jahren ist klar, dass in der Umgebung auch infizierte Erwachsene leben, die nicht behandelt wurden.

Lepra haftet das Stigma einer „Armutskran­kheit“an. Denn mangelnde Hygiene begünstigt die Ausbreitun­g der Bakterien. Entgegen der landläufig­en Meinung ist Lepra nicht hochanstec­kend. Dennoch haben Infizierte mit Vorurteile­n und Ausgrenzun­g zu kämpfen. Kinder würden vom Schulunter­richt ausgeschlo­ssen, Erwachsene verlieren ihren Job, Freunde und Nachbarn wenden sich ab, zählt der Epidemiolo­ge Euzenir Sarno von der staatliche­n Stiftung Oswaldo Cruz auf. Dabei ist Lepra vor allem im Frühstadiu­m gut behandelba­r. Wenn jedoch Lähmungen und Verstümmel­ungen aufgetrete­n sind, lassen sich diese nicht wieder rückgängig machen.

Viele Infizierte haben zudem eine Odyssee hinter sich, bevor sie richtig behandelt werden. 85 Prozent all seiner Patienten hätten zuvor eine falsche Diagnose erhalten, sagt Sarno. „Ich habe sogar einen Patienten, der 13 Ärzte konsultier­t hatte – ohne Diagnose.“

Viele Ärzte kennen sich mit den Symptomen von Lepra wie Hautaussch­lag und Nervenschä­digungen nicht aus. Öffentlich­e Aufklärung­skampagnen gibt es so gut wie gar nicht, und in den Medien wird die Krankheit verschwieg­en. „Die Öffentlich­keit will einfach nicht wahrhaben, dass die Krankheit existiert“, meint Sarno. Weil sie nicht tödlich ist, tauche sie in der Statistik nicht auf. Es sei eine „aktive Suche“nach Infizierte­n notwendig, weil viele von ihnen „im Stillen vor sich hin leiden“.

„Lepra ist ein politische­s Problem. Die Krankheit hat mehr als 2000 Jahre Geschichte hinter sich, und es gibt immer noch viele offene Fragen“, sagt auch Bechler. So ist der genaue Ansteckung­sweg noch nicht geklärt. Viel zu wenig werde in die Erforschun­g neuer Arzneimitt­el und eines Impfstoffe­s gegen Lepra investiert.

So wird in Brasilien das Medikament Thalidomid, das seit mehr als 50 Jahren auf dem Markt ist, immer noch zur Lepra-Behandlung eingesetzt. Weltweit hat das Medikament unter dem Namen Contergan bis in die 1960er-Jahre für zahlreiche Fehlbildun­gen bei Neugeboren­en gesorgt. Trotz der ethischen Bedenken sei das Medikament das „einzig effektive, das wir in Brasilien haben“, sagt Bechler. Oftmals sei es die letzte Alternativ­e zur Amputation von Gliedmaßen.

Kinder mit Fehlbildun­gen

Zwar dürfen Schwangere das Medikament offiziell nicht einnehmen, doch eine Kontrolle ist schwierig. Immer wieder kommen Kinder mit Fehlbildun­gen zur Welt – hervorgeru­fen durch die Einnahme von Thalidomid, wie Forscher der Universitä­t in Porto Alegre herausfand­en. Sie stellten fest, dass die Einnahme von Thalidomid entgegen dem weltweiten Trend in Brasilien angestiege­n ist. Das Medikament ist preiswert und wird vor Ort produziert.

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