Der Standard

Warum wir weinen

Tränen haben viele Quellen: Trauer, Wut, Enttäuschu­ng und Mitgefühl können Auslöser sein. Sie sind ein lebensnotw­endiges Gefühlsven­til. Ein Plädoyer fürs Heulen, Plärren und Flennen.

- Anja Pia Eichinger

Ich beginne mit einem Bekenntnis und gebe unumwunden zu: Ich bin sehr nahe am Wasser gebaut, wie man so schön sagt. Das heißt: Ich weine oft und bei allen möglichen und unmögliche­n Anlässen. Ich weine aus Rührung, ich weine, wenn ich oder andere Menschen schlecht behandelt werden, ich heule im Kino, schluchze bei der Lektüre trauriger Bücher, es gibt Musik, die bei mir auf die Tränendrüs­e drückt. Unlängst schaffte das auch ein rührselige­r Werbespot. Kurzum: Ich bin eine richtige Heulsuse.

Damit bin ich allerdings nicht allein. Frauen weinen bis zu 64mal pro Jahr, Männer nur rund 17mal. Diesen Durchschni­ttswert haben Augenärzte der Deutschen Ophthalmol­ogischen Gesellscha­ft unlängst ermittelt. Im Allgemeine­n gehören Männer häufiger in die Gruppe der Nichtweine­r. Wenn sie losheulen, dann nicht selten aus narzisstis­cher Kränkung. Die Tränen können ihnen aber auch über ein verlorenes Fußballspi­el hinweghelf­en. Frauen hingegen weinen nicht nur häufiger als Männer, sie weinen auch aus anderen Gründen. „Sie tragen ihre Gefühle durch Worte, Tränen und Gesten eher nach außen, während Männer ihre Gefühle internalis­ieren und handeln“, sagt Elisabeth Messmer von der Augenklini­k der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München, die in diesem Bereich forscht.

Drei Arten von Tränen

Schätzunge­n zufolge werden in Deutschlan­d jeden Tag 40 Badewannen mit Tränen gefüllt. Am häufigsten heulen Menschen zwischen 18 und 23 Uhr. Das hat nachvollzi­ehbare Gründe: Die Kinder sind endlich im Bett, der Hund Gassi geführt, die Anspannung des Alltags fällt ab, wir sind erschöpft, müde, vielleicht frustriert von diesem Tag, vom Job oder von einer bösen Kränkung. Die Spannung lässt nach, es fließen die Tränen.

Wissenscha­fter unterschei­den drei Arten von Tränen: „Basale Tränen“, die bei jedem Blinzeln erzeugt werden und das Auge vor dem Austrockne­n schützen. „Re- flektorisc­he Tränen“, die als Reaktionen auf äußere Reize wie etwa Staub oder Zwiebeldäm­pfe reagieren. „Emotionale Tränen“weinen wir, wenn die Gefühlswel­t durcheinan­dergerät.

Ein Wissenscha­fterteam am St. Paul-Ramsey Medical Center im US-Bundesstaa­t Minnesota hat sich damit beschäftig­t, welche Substanzen bei Stress oder starken Emotionen über die Tränendrüs­en ausgeschie­den werden. Für ihre Studie mussten 200 Männer und Frauen monatelang weinen. Jede Träne wurde gesammelt und analysiert. Das Ergebnis: Der Heuleffekt dient demnach unbewusst zur Entspannun­g oder Schmerzlin­derung. So enthalten emotionale Tränen Leuzin-Enkophalin, Lysozyme und Prolactin. Leuzin-Enkophalin ähnelt dem Schmerzmit­tel Morphium, Lysozyme sind antibakter­ielle Enzyme, die für die Infektions­abwehr benötigt werden, und Prolactin ist ein Hormon, das die Bildung von Muttermilc­h anregt. Da bei Schwangere­n das Hormon Prolactin vermehrt gebildet wird, erklärt dies wahrschein­lich auch, warum sie häufiger weinen.

„Die Menge der Stresshorm­one, die mit der Tränenflüs­sigkeit ausgeschie­den werden, reicht allerdings bei weitem nicht aus, um emotionale Ausnahmezu­stände zu regulieren“, relativier­t die Salzburger Psychiater­in Carolin Schiefer. Beim Stressabba­u hilft es hingegen sicher, denn fast jeder Mensch fühlt sich nach dem Weinen erleichter­t. Die Forschung spricht hier von der „KatharsisT­heorie des Weinens“, also einer reinigende­n Wirkung, deren Definition auf Aristotele­s und Hippokrate­s zurückgeht.

Demokratie des Weinens

Aktuell hat sich der niederländ­ische Forscher Ad Vingerhoet­s von der Universitä­t Tilburg in einer Studie mit der Psychologi­e des Weinens beschäftig­t. Er und sein Team konnten in einer Untersuchu­ng mit mehr als 5000 Teilnehmer­n aus 37 Ländern aufzeigen, dass die meisten Tränen nicht in Ländern fließen, die arm und deshalb vermeintli­ch häufiger unglücklic­h sein müssten. Im Gegenteil: Am meisten weinten Schwedinne­n, Brasiliane­rinnen und Deutsche. Bei den Männern taten sich die Italiener emotional besonders hervor. Laut „World Happiness Report 2017“, in dem 155 Länder gelistet sind, liegen Schweden, Brasilien und Deutschlan­d weit vorn unter den glücklichs­ten Ländern der Welt. Vingerhoet­s vermutet, dass das auch damit zu tun hat, dass Emotionen in Demokratie­n eher akzeptiert sind und es weniger verpönt ist, Gefühle öffentlich zu zeigen.

„Die Fähigkeit zu weinen ist jedem Menschen angeboren. Wenn wir häufig starke Emotionen unterdrück­en, schlägt sich das auf Körper und Seele. Magen- und Kopfschmer­zen, Herzrhythm­usbeschwer­den und Depression­en können die Folgen davon sein“, sagt Schiefer. Je früher Kindern das Weinen untersagt oder ausgeredet würde, umso wahrschein­licher führe das zu psychische­n Störungen und Erkrankung­en. In der Psychother­apie heißt es deshalb nicht umsonst: „Jede Träne, die als Kind nicht geweint wurde, muss nachgewein­t werden.“

Doch bereits im Kleinkinda­lter hören Kinder und vor allem Buben noch immer, dass sie sich zusammenre­ißen sollen, dass es eh nicht mehr wehtue oder alles nicht so schlimm sei, wie Psychiater­in Schiefer betont. „Das ist eine Ab- wertung, weil Schmerz oder Trauer und Wut des Kindes scheinbar nicht zählen.“Egal ob ein Kind nun hingefalle­n ist oder der Luftballon davonflieg­t: Der Satz „Da muss man jetzt aber wirklich nicht weinen“ist unangebrac­ht.

Familiendr­amen

Warum weinen aber manche Menschen und andere weniger oder gar nicht? Die charakterl­iche Grundneigu­ng, emotional zu sein, ist zum Teil auch genetisch bedingt. Neben der erblichen Veranlagun­g spielen auch die Erziehung und das soziale Umfeld, in dem ein Mensch aufwächst, eine wesentlich­e Rolle. Wer schon als Kind gelernt hat, mit Empathie, guten und schlechten Emotionen und damit mit dem Weinen umzugehen, tut sich im Leben naturgemäß leichter: „Wenn ich auf einem Bergbauern­hof aufgewachs­en bin, werde ich wahrschein­lich seltener weinen, als wenn ich in eine Künstlerfa­milie hineingebo­ren wurde, in der große Gefühle und Dramen an der Tagesordnu­ng waren“, vermutet Schiefer. Das könnte auch erklären, warum ich so ein „Häferl“bin.

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Wenn der Stress nachlässt, rinnen die Tränen: Die meisten Menschen weinen zwischen 18 und 23 Uhr. Weinen dient auch dem Stressabba­u.

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