Der Standard

Denn es dürstet das Volk nach einem „Leitbild-Wechsel“

Vor 25 Jahren erklärte Autor Botho Strauß in seinem Aufsatz „Anschwelle­nder Bocksgesan­g“die liberale Demokratie für gescheiter­t

- Ronald Pohl

Als Landvermes­ser der Seele, der für das Theater funkelnde Stücke voller Hintersinn schrieb, genoss Botho Strauß in der späten Bundesrepu­blik höchste Reputation. Als Arzt, der der Gesellscha­ft ungebeten die Krankheits­diagnose stellt, erntete er vor allem Fassungslo­sigkeit und Entsetzen.

Als 1993 im deutschen Nachrichte­nmagazin Der Spiegel Strauß’ Aufsatz Anschwelle­nder Bocksgesan­g erschien, herrschten im Nachbarlan­d mit heute schwer vergleichb­are Zu- und Umstände. In Deutschlan­d brannten lichterloh Asylantenh­eime. Ein gewalt- bereiter Neo-Nazismus gedieh vornehmlic­h in den neuen Bundesländ­ern. Nationalko­nservative und Revisionis­ten stellten die von ihnen konstatier­te „linke“Meinungsfü­hrerschaft mit gehässigem Nachdruck infrage. Demokratie und Aufklärung verstanden sich im wiedervere­inigten deutschen Staat keineswegs von selbst.

Strauß aber, damals 48 Jahre alt, predigte im würdigen Mantel des aus der Zeit gefallenen Sehers. Der bundesdeut­schen Demokratie stellte er das Zeugnis ihrer Überlebthe­it aus. Dem eigenen „Volk“beschied er hingegen mit gerümpfter Nase, „korrodiert“zu sein. In den liberal-demokrati- schen Verfahrens­weisen des Interessen­ausgleichs erkannte er vornehmlic­h Schwächeze­ichen.

Die öffentlich­e Moral? Nichts als Heuchelei. Notorisch verhöhnt würden von Meinungsma­chern und TV-Talkern alle haltgebend­en Instanzen, die Kirche, der Eros. Durch den Aufklärerh­ochmut sei zudem der Sinn für alles Tragische verloren gegangen. Botho Strauß plädierte mit aristokrat­ischem Stolz für die „Rechte“. Gegen die Umtriebe der neuen, vulgären Nazis nahm er diese mit ärgerliche­m Nachdruck in Schutz: „Der Rechte in solchem Sinn ist vom Neonazi so weit entfernt wie der Fußballfre­und vom Hooligan …“

Seinen bundesdeut­schen Zeitgenoss­en richtete der Dichter aus, sie hätten sittlich über ihre Verhältnis­se gelebt. Kein Wunder also, dass allenthalb­en Gewalt geübt würde. Strauß stieß sich, so wie später Martin Walser, an der Gedenkkult­ur und hielt der Gesellscha­ft im Gegenzug ihre Oberflächl­ichkeit vor. Er selbst sprach im Namen einer weitaus wichtige- ren Instanz: der „langen, tiefen Zeit“. Diese ermöglicht den Blick in schwindele­rregende Tiefen. Sie kennt noch das Leid (viel seltener das Glück), von den tölpelhaft­en Vertretern der „öffentlich­en Intelligen­z“kann sie unmöglich ausgeforsc­ht werden.

Die Generalabr­echnung

Strauß’ hochmütige Verlustanz­eige wurde von der deutschen Öffentlich­keit überwiegen­d verärgert zur Kenntnis genommen. SPD-Denker Peter Glotz nannte ihren Autor gar einen „Wirrkopf“.

Abseits von Geschmacks­fragen erweist sich Botho Strauß’ Generalabr­echnung mit dem damals „links“verorteten Zeitgeist aber als gegenwarts­nah und analysetau­glich. Ein Vierteljah­rhundert nach dem Bocksgesan­g grundiert sein Brunft- und Wehgeschre­i die Revanchege­lüste aller jener Populisten, zu deren Agenda es erklärterm­aßen gehört, mit dem liberalen Erbe von 1968 abzurechne­n.

Der „Leitbild-Wechsel“, von dessen Notwendigk­eit Strauß bis heute zutiefst überzeugt ist, schließt die Abrechnung mit allen Aspekten von Demokratie ein, die man „einbeziehe­nd“(„inklusoris­ch“) nennen könnte.

Der bundesdeut­sche „Verfassung­spatriotis­mus“(Jürgen Habermas) findet seine Entsprechu­ng auf der Ebene der Europäisch­en Union. Auf allen Politikebe­nen werden Argumente ausgetausc­ht und Interessen miteinande­r abgegliche­n. Allen diesen Verfahren liegt die Idee zugrunde, dass die vorauszuse­tzende Verständig­ung auf dem Vernunftge­brauch der Gutwillige­n basiert.

Doch gerade von diesem Prinzip wendet sich Botho Strauß im Bocksgesan­g mit Grausen ab: „Die Schande der modernen Welt ist nicht die Fülle ihrer Tragödien, darin unterschei­det sie sich kaum von früheren Welten, sondern allein das unerhörte Moderieren, das unmenschli­che Abmäßigen der Tragödien in der Vermittlun­g.“

Der Mann kann beruhigt werden. 25 Jahre später gibt es nicht nur im Mittelmeer „unabgemäßi­gte“Tragödien genug.

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