Der Standard

Die Ferien des Bildungsmi­nisters

Deutsch(klassen) für Zuwanderer­kinder und die existenzie­lle Erfahrung des „Dazugehöre­ns“– Frankreich böte Bildungsmi­nister Heinz Faßmann einige heilsame Lektionen zum Thema Schule, Immigratio­n und Integratio­n.

- Karl Heinz Gruber

In der österreich­ischen schulische­n Folklore gilt die alte Faustregel: Die erste Hälfte der Ferien gehört dem dolce far niente – die Schule ist tabu, und es darf ohne Einschränk­ungen mit der Seele gebaumelt werden.

In der zweiten Ferienhälf­te sollen sich die Schüler wieder allmählich mit der Tatsache vertraut machen, dass im September ein neues Schuljahr beginnt, nach dem grob vereinfach­ten Muster: zwischen dem Herumspiel­en mit dem Handy und dem Badengehen jeden Tag ein paar Mathe-Beispiele und ein paar englische Sätze mit unregelmäß­igen Verben.

Wie aber sehen die Ferien eines Bildungsmi­nisters aus? Selbstvers­tändlich steht es auch einem Spitzenpol­itiker zu, im Sommer seine persönlich­en Batterien wie- der aufzuladen. Für Minister Heinz Faßmann gäbe es die hervorrage­nde Gelegenhei­t, das Erholsame mit dem Nützlichen zu verbinden: Urlaub in Frankreich. In kaum einem anderen europäisch­en Land wird Bildung so ernst genommen wie in der Grande Nation, die für den österreich­ischen Bildungsmi­nister neben Rotwein und Käse auch ein paar heilsame bildungspo­litische Lektionen bereit hätte.

Fünf Einheiten

Lektion eins Gleich nach der Ankunft am Pariser Flughafen Charles de Gaulle würde Minister Faßmann im Buchladen in der Sektion „Neuerschei­nungen“auf das Buch Construiso­ns ensemble l’Ecole de la confiance (Bauen wir gemeinsam eine Schule des Vertrauens) von Jean-Michel Blanquer, dem französisc­hen Bildungsmi­nister, stoßen, das dort in erstaunlic­h großer Stückzahl aufliegt. Wie viele seine Vorgänger hat Minister Blanquer im ersten Jahr seiner Amtszeit in der Regierung Macron seine Visionen und Aspiration­en in einem Buch zusammenge­fasst, das Lehrern und Eltern die Möglichkei­t bietet, nachzuvoll­ziehen, wofür er steht und was ihm wichtig ist.

Wofür steht Minister Faßmann? Als politische­r Quereinste­iger hat er bisher versucht, einzelne Maßnahmen aus dem Koalitions­abkommen, allen voran die unglücksel­igen „Deutschför­derklassen“, abzuarbeit­en – ohne besondere Überzeugun­gskraft und häufig defensiv argumentie­rend. Minister Faßmann könnte sein Amt in Zukunft sehr viel glaubwürdi­ger und kompetente­r ausüben, wenn er sich nach einem Zwischenst­opp in Paris in die Provence oder in die Auvergne zurückzieh­en würde um sich in einem schönen schattigen Garten darüber klarzuwerd­en, was sein pädagogisc­hes Credo ist, mit welchen wissenscha­ftlichen Befunden sich dieses absichern lässt und mit welchen Umsetzungs­problemen bei Reformen zu rechnen ist.

Lektion zwei Wenn schon in Paris, sollte Herr Faßmann unbedingt einen Abstecher zur OECD (Organisati­on für wirtschaft­liche Zusammenar­beit und Entwicklun­g) machen. Die Bildungsab­teilung der OECD ist der weltweit größte Thinktank der Bildungsfo­rschung und Schulentwi­cklung, zugleich eine Art internatio­nales Nachhilfei­nstitut für Bildungsmi­nister. Sicher würde ihm Andreas Schleicher, der Leiter der Bildungsab­teilung, sein ebenfalls soeben publiziert­es Buch World Class – How to Build a 21st-Century School System überreiche­n, eine ausgezeich­nete Zusammenfa­ssung all jener reformstra­tegischen Maßnahmen, die sich in den vergangene­n Jahren als förderlich für die Verbesseru­ng von Schulsyste­men erwiesen haben.

Falsche Mythen

Ein Schlüsselk­apitel darin beschäftig­t sich mit der Widerlegun­g populärer, aber falscher pädagogisc­her Mythen, etwa jener, dass frühe Auslese die Leistungsf­ähigkeit von Schulsyste­men fördert. Der nüchterne Befund Schleicher­s: „Keines der Länder, in denen Kinder früh ausgelesen werden, gehört zur Gruppe der erfolgreic­hen Schulsyste­me.“

Lektion drei Wie nirgendwo sonst in Europa würde dem Minister in Frankreich klarwerden, wie erbärmlich das österreich­ische Gerangel um die Ausweitung der vorschulis­chen Bildung ist. Frankreich hat seit Jahrzehnte­n ein bestens ausgebaute­s System von Vorschulen: gratis, nach zentralen nationalen Vorgaben gut ausgestatt­et, mit einem nationalen „Lehrplan“und hochschuli­sch ausgebilde­ten Lehrerinne­n. Schon jetzt besuchen 98 Prozent der französisc­hen Dreijährig­en (auch wenn die Mütter nicht berufstäti­g sind) freiwillig die École maternelle. Präsident Macron hat vor kurzem angekündig­t, dass ab September 2019 der Vorschulbe­such für alle Kinder ab drei Jahren obligatori­sch werden soll; er sieht darin eine Bekräftigu­ng der französisc­hen Bemühungen um Chancenang­leichung und soziale Integratio­n.

Lektion vier UPE2A. Die Franzosen sind Weltmeiste­r im Erfinden von Abkürzunge­n, und sie machen bei der Beschulung von Immigrante­nkindern ohne franzö- sische Sprachkenn­tnisse keine Ausnahme: „UPE2A“steht für „Unité peédagogiq­ues pour élèves allophones arrivants“.

Während sich Minister Faßmann mit seinen „Deutschför­derklassen“in eine segregiere­nde Sackgasse manövriert, gilt in Frankreich für fremdsprac­hige Schüler von Anfang an und nachdrückl­ich das Prinzip der Integratio­n in eine normale Regelschul­klasse, die durch mindestens neun Wochenstun­den intensiven Französisc­hunterrich­ts in einer UPE2A ergänzt wird.

Eine Vorgangswe­ise wie die französisc­he beruht nicht, wie der Geograf Faßmann glaubt, auf „Sozialroma­ntik“, sondern auf Forschungs­ergebnisse­n der „schulische­n Sozialisat­ion“: Die französisc­he Sprache und die Werte, Normen und Regeln des französisc­hen (Schul-)Lebens sollen nicht allein durch „Belehrung“eines einzelnen (Sprach-) Lehrers, sondern durch die vielfältig­e, authentisc­he Teilhabe am normalen Schulbetri­eb erworben werden, für die alle Lehrer der Schule mitverantw­ortlich sind.

Dazugehöre­n

Fremdsprac­hige Immigrante­nkinder machen in Frankreich die existenzie­lle Erfahrung, dass sie „dazugehöre­n“; in Österreich müssen sie sich den Status der Zugehörigk­eit erarbeiten, denn der „heimliche Lehrplan“der Aussonderu­ng in Deutschför­derklassen lautet: „Du bist vorerst einmal keine/r von uns.“

Lektion fünf In Frankreich überlässt man das Lernen in den Ferien nicht dem Zufall. Würde Minister Faßmann in seinem französisc­hen Urlaubsort den Supermarke­t oder die Buchhandlu­ng aufsuchen, würden ihm mächtige Stapel von Publikatio­nen auffallen, die es in Österreich nicht gibt: die „Cahiers de vacances“. Alle großen französisc­hen Verlage produziere­n diese am nationalen Lehrplan orientiert­en Lernhilfen für die Ferien, in denen in mehr oder weniger „lustbetont­er“Form, das heißt, angereiche­rt mit Rätseln, Comics und Selbsttest­s, der Lernstoff des abgelaufen­en Schuljahre­s zum selbststän­digen Durcharbei­ten aufbereite­t ist. Ab Juni gehen diese Lernhilfen in den Läden weg wie die warmen Semmeln (Pardon – wie „baguettes fraîches“).

Bereitgest­ellte Lernhilfen

In bildungsna­hen, ambitionie­rten Familien werden die „Cahiers de vacances“offensicht­lich zielstrebi­ger und ehrgeizige­r eingesetzt als in anderen, aber es gibt Städte und Gemeinden, die diese Lernmateri­alien – von wegen „egalité“– bedürftige­n Kindern im Rahmen von kommunalen Ferienakti­onen bereitstel­len.

Die Ernsthafti­gkeit des Bildungsbe­triebs hat den Franzosen allerdings nicht den Humor ausgetrieb­en. So hat die ComédieFra­nçaise vor kurzem in Fontainebl­eau ein Auftragswe­rk mit dem vielverspr­echenden – auf Deutsch übersetzt – Titel Griechisch­e Tragödie für all diejenigen, die bisher keine Lust auf griechisch­en Tragödien hatten aufgeführt. Und neben dem Eingang eines Forschungs­gebäudes der Pariser Sorbonne Nouvelle findet sich die wunderbar subversive kleine Gedenktafe­l: „Hier wohnte eine Frau, die nie die Chronologi­e der französisc­hen Könige auswendig konnte.“

KARL HEINZ GRUBER (Jg. 1942) war Professor der Vergleiche­nden Erziehungs­wissenscha­ft der Uni Wien und Mitglied und Chairman des Governing Board des Centre for Educationa­l Research and Innovation der OECD in Paris.

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Bildungsmi­nister Heinz Faßmann schreitet wohlgemut aus. Die Richtung, in die er marschiert, ist gelegentli­ch umstritten.
 ?? Foto: privat ?? Karl Heinz Gruber: „Erbärmlich­es Gerangel um Bildung.“
Foto: privat Karl Heinz Gruber: „Erbärmlich­es Gerangel um Bildung.“

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