Citygirl
Sicherheitsvorkehrungen, Reality-Check und 80 Vögel: Die Journalistin, Schriftstellerin und Stadtpflanze Ela Angerer besucht Mario Schlembach zu Hause in der Provinz.
NLANDFAHRT: ELA ANGERER
iemand ist überrascht, wenn man sich als Stadtpflanze Richtung Flughafen verabschiedet. Aber aufs Land? Mitten unter der Woche? Dafür ernte ich Stirnrunzeln. Einen Gesichtsausdruck, kurz vor der Frage: „Geht’s dir eh gut?“Ja, aufs Land, sage ich. Also, auf dieses eine Land, juhu.
Pünktlich um acht holt mich der tolle Fotograf mit seinem Kombi ab. Wir wollen früh los. Die Wetter-App könnte mit ihrer Hitzewarnung zur Abwechslung einmal richtigliegen. In meinem Handgepäck befinden sich zwei Wasserflaschen – für den Fall, dass wir mitten in der Pampa eine längere Autopanne ... Ich bin der Sicherheitstyp. Trotzdem hat eine Mischung aus Feigheit und Desorganisation dazu geführt, dass ich seit Jahrzehnten nicht mehr gegen Zecken geimpft bin. Daher die zweite Vorsichtsmaßnahme: Meine Arme und Beine sind mit dem „Anti-Zeck“-Spray Aries Outdoor eingesprüht (Eco-ControlZertifikat). Darüber klebt eine Schicht LSF-50-Creme. An bestimmten Stellen neige ich zur Sonnenallergie.
Aber sonst alles easy. Wir fahren hinaus in die Natur. Nach Sommerein! „Wo ist dieses Kaff noch einmal?“– Wir rollen über den Gürtel, wo der Verkehr bei offe-
nem Autofenster so laut ist, dass wir uns anschreien müssen. Der tolle Fotograf tippt den Namen in sein Navi: „Zielort in 43 Kilometern.“Angeblich ist Sommerein ein Dorf in Niederösterreich. Aber keiner hat je davon gehört. Die per Mail versandte Wegbeschreibung unseres Gastgebers lässt auch zu wünschen übrig („Nach der Kurve kommt ein Feld, dann noch eines“). Traktorfahrer aus der Umgebung würden damit locker hinfinden. Wir nicht.
Hektisch bemühen wir ein zweites Navi – eines plappert jetzt aus dem Armaturenbrett, das andere aus meinem iPhone. So schaffen wir es an Schwechat vorbei und auf der Zielgeraden durchs Industrieviertel. Das klingt bebaut, ist es aber nicht: Hier grüßen nur mehr flache Landschaft und Windräder. Ein Feld reiht sich ans nächste. Abwechselnd gelb, grün, semmelfarben. Hoch über uns fliegt jede Minute ein Flugzeug. „Das muss die Einflugschneise sein“, staunt der tolle Fotograf.
„Zielort in zwölf Kilometern.“In seinem Zweitberuf arbeitet Schlembach als Totengräber. Wie schon seine Eltern und Großeltern lebt er in einem Dorf mit dem literarischen Namen Sommerein. Das klingt, als hätte es sich Edgar Allan Poe
ausgedacht. Aber nein, alles echt: Schon bei unserem ersten Mittagessen im Zuge eines gemeinsamen „Writers in Residence“-Programms, wir waren damals erst bei der Vorspeise, erzählte Schlembach so ausführlich von seiner jüngsten „Erdbewegung“(ein Seil war gerissen und der Sarg schief in die Grube gekippt), dass mir der Suppenlöffel im Hals stecken blieb.
„Bestatter-Storys in Zukunft erst nach der Hauptspeise!“, lautete meine Bedingung. Aber Schlembach schafft so eine Vorgabe nicht. Er ist nicht nur ein engagierter Totengräber. Er ist auch ein leidenschaftlicher Erzähler, mit Sinn für Dramatik, Witz und Ironie. In seiner Welt ist der Sensenmann ein großer Komiker. Ein Destillat aus Hans Moser und Josef Hader. Mit der Zeit wurde das ansteckend: Scherze über unseren eigenen Tod waren schließlich an der Tagesordnung, schon vor dem Salat („Urne voll praktisch. Verwesen unter der eigenen Gartenerde illegal, aber optimal, haha!“).
Ursprünglich und überschaubar
Viel mehr als die Friedhofsschwänke fesselte mich allerdings, wie Schlembach seinen Heimatort beschrieb: Alles scheint dort so ursprünglich und überschaubar zu sein, wie ich es nur aus den Bilderbüchern meiner Kindheit kenne: die Kirche, das Wirtshaus, der Supermarkt. Der Bauernhof, das Feld. Die Sonne scheint, die Katzen schnurren. Die Menschen haben alle ihren Platz.
Tag für Tag skizzierte Schlembach neue Einzelheiten seiner Gemeinde. Die Wirkung war ähnlich wie bei einer Telenovela. Ich lebte, feierte und litt plötzlich mit allen Bewohnern mit. Wollte, wie beim Binge-Watching, dass es nicht mehr aufhört. Oder wenigstens überprüfen, ob das alles auch nur halbwegs stimmt. „Kann es so einen Ort in Wirklichkeit geben?“, fragte ich mich. Oder sind das nur Konstrukte, ähnlich wie der Dorf-Bestseller Unterleuten von Julie Zeh?
Heute machen wir den Reality-Check. „Sie sind am Ziel“, rufen die Navis. Inzwischen ist es drückend heiß. Beschaulich schmiegt sich der Ortskern in die weite Landschaft. Um eine dottergelbe Kirche nur als Plakette, sondern in echt. Ein Huhn greife ich sogar an. Es fühlt sich leicht an. Wenn man es vorsichtig an sich drückt, gibt sein Körper nach, als wäre er innen hohl. Was theoretisch vielleicht gar nicht so falsch ... okay, lassen wir das. Bisher kenne ich Hühner nur ofenfertig, da fehlt einem der Durchblick.
Mit den gelegten Eiern bäckt Mutter Schlembach jeden Tag die Torten für die Begräbnisfeiern, außerdem das Kuchensortiment fürs Wirtshaus. Was nur ein weiteres Beispiel dafür ist, wie hier alles mit allem zusammenhängt: Das Gasthaus Schlembach wird von Marios Onkel betrieben. Mario Schlembach, Schriftsteller und Totengräber, macht quasi im Vorbeigehen auch noch die Buchhaltung für ihn. So finanziert er seine Reisen und längeren Schreibklausuren im Ausland.
Apropos Reisen: Die Eltern Schlembach sind auch schon viel herumgekommen – Schlembach senior war mit seiner Frau (und wahrscheinlich auch mit seinen kurzen Hosen) bereits in Usbekistan, Sansibar und Armenien. „Ohne Englisch!“, wie er mit leuchtenden Augen betont. Auch das ist man als Sommereiner: stolz auf die eigene Ausgangsbasis und wie weit man damit kommt. Und Dorfskandale? Wie steht’s damit, frage ich. Mario muss nachdenken. Ja, ein früherer Feuerwehrhauptmann hat seine Skiurlaube aus der Betriebskasse finanziert. Zusammen mit einem Brandstifter von der Feuerwehrtruppe des Nachbarortes schaffte man es damit sogar in die Schlagzeilen der Niederösterreichischen Nachrichten.
Inzwischen sitzen wir im Gasthaus. Dienstag ist Schnitzeltag. An jedem Tisch wartet ein einzelner Gast vor seinem Bier. Geredet wird nicht. Im Vergleich zum permanenten Ins-Handy-Geplapper in den Wiener Öffis ist das verdammt angenehm. Marios Mutter stellt uns frische Omeletts auf den Tisch, die der Koch aus ihren Eiern gemacht hat.
Vor der Bar, mitten in der gediegenen Buchenholz-Einrichtung, leuchtet ein weiteres unbekanntes Flugobjekt. Es sieht gefährlich nach Zukunft aus. Mario sagt: „Die Kuchenvitrine ist neu. Der Onkel bringt solche Sachen gerne von seinen Einkaufstouren in den Metro-Markt mit.“