Countryboy
Kontemplationen über Ruhe und Unruhe: Mario Schlembach, Bauernsohn, Totengräber und Autor, lebt in der Provinz und hat Ela Angerer in der Großstadt besucht.
ISTADTBESUCH: MARIO SCHLEMBACH
ch bin Totengräber. Ich bin Bauernsohn. Ich lebe in der Provinz. Es hat lange gedauert, um diese Worte ohne Angst und Bedenken auszusprechen. Als Jugendlicher verleugnete ich jede Herkunft. Ich schwieg, um mich als Mann der Welt zu geben. Nichts hatte dieses Land mit mir und meinen Gedanken zu tun. Wenn ich über die Grenze trat, genierte ich mich für alles, was ich war, und legte meinen Dialekt ab, um eine reine Sprache zu sprechen. Was ist ein Bauer, ein Totengräber im Vergleich zu den Menschen in der Stadt, die in ihren Designeruniformen auf mich wie ein höherer Adel wirkten, in den man entweder hineingeboren wird oder nicht. Ich habe mir eine Identität aus der Verleugnung der Wahrheit aufgebaut. Es ist ein Konzept, in dem der Kollaps unausweichlich ist.
Ela öffnet die Tür zu ihrer Wohnung. Unerträgliche Hitze heute. Den ganzen Vormittag habe ich sie durch meine Orte am Land geführt, und jetzt will sie mir ihre Stadt zeigen. Sie macht sich frisch, und ich warte in ihrem Arbeitszimmer; ein großer, heller Raum, und alles schreit nach Worten. Einzelstücke wie sprechende Anekdoten. Ela erzählt mir von ihren Routinen, über die Dünnhäutigkeit beim Schreiben
und die Phasen, in denen sie völlig im Text, einem anderen Kosmos, verschwindet und das Wieder-in-die-Welt-Treten, auch nur, um sich die nötigsten Dinge zu besorgen, zur schier unmöglichen Überwindung wird. Einmal den Fuß vor die Tür gesetzt, herrscht ein ständiger Kampf im Minenfeld der Eitelkeiten und Repräsentation.
Ich gehe in mein Aussiedlerland wie in eine Schneekugel hinein. Alles ist dort in einen Raum und in eine Atmosphäre gehüllt, die nichts ein- und nichts hinausdringen lässt. An diesem Ort bin ich auf mich zurückgeworfen, und ich verlasse ihn erst, wenn ich wieder völlig leer bin. In der Provinz gibt es keine andere Ablenkung für mich als die eigene Stumpfsinnigkeit. Keine Nebengeräusche verstellen die klare Stimme der Selbstbezichtigungen. Ich gehe die immer gleichen Wege ab, und doch gehe ich sie im Gedanken jederzeit zum ersten Mal.
Eine alte Dame mit Stock und dicker Brille wird in den Bus geführt. Eine junge Mutter macht für sie in der ersten Reihe Platz. Ihr achtjähriger Sohn bleibt sitzen. „Mama, ist die blind?“, ruft er. „Ich weiß es nicht, Schatz“, sagt die Mutter. „Sind Sie blind?“, fragt der Junge die Dame nun
direkt. Sie beugt ihren Kopf hinunter: „Du musst lauter sprechen, ich höre schlecht.“Dahinter eine Sechzehnjährige, die sich in allen möglichen Posen fotografiert und währenddessen mit Kopfhörern in den Ohren über die eitrigen Entzündungen ihrer diversen Einstichlöcher monologisiert – „Mama sagt, Zunge erst ab siebzehn!“–, während die Stadt draußen vorbeizieht.
Ela fährt Rad. Die ungefilterten Nebengeräusche irritieren sie, lenken sie ab. Im Fahren bleiben die Gedanken im Rahmen, und die Stadt erstrahlt in einem anderen Licht. Nach drei Tagen beginnt die Unruhe. Der Drang der Veränderung wird wach. „Raus, raus, raus“, schreit es in mir. Ich denke, am Land das Leben zu verpassen, und fahre in die Stadt. Wie ein Getriebener ziehe ich durch die Gassen, bis meine Augen und mein Geist zu müde sind, um weiterzumachen. Ich schlafe kaum und höre nur das ständige Rauschen der Stimmen und Eindrücke. Meine Gedanken sind eine Maschine ohne Datenschutzverordnung. „Wo ich lebe?“, fragte mich Ela, aber ich konnte ihr nicht antworten. Im Dazwischen vielleicht, denke ich jetzt, ständig auf der Suche, einen Platz zu finden, um der Unruhe die nötige Ruhe zu geben. Ich brauche die Stadt, um mich im Leben zu fühlen. Ohne die Geräusche, ohne die Kulisse der brechenden Sprachwellen ist nichts möglich, denn dort werden die Wor- te plötzlich klar. Ein Satz, das Bruchstück eines Gesprächs nur – und die Bombe zündet. Drei Tage – und ich habe mich völlig ausgeschöpft. Die Stadt ist ein zügelloses Monster des Wandels. Alles in mir sehnt sich nach der Stille, und ich fahre zurück in die Provinz, wo ich bis zur Langeweile schreibe. Drei Tage! Bleibe ich länger an einem Ort, dann operiere ich mir manchmal das Herz aus meiner Brust, nur um zu sehen, ob es noch schlägt.
Wir treten in einen Bioladen und trinken einen frischgepressten Saft aus Äpfeln, Ingwer und roten Rüben. Ein junger Mann lässt sich über die diversen Samen aufklären und wie sie eine ausgewogene Ernährung ideal ergänzen können. Eine Frau mit Cowboystiefeln und einem Plastikeinkaufssack wird mit skeptischen Blicken gemustert. Laut Ela sind die Stiefel in, aber die Säcke out. Im Endeffekt macht sich jeder die Stadt zu seinem Dorf, sagt Ela. Man zieht seine Kreise, sucht eine Ansprache irgendwo, um einen Anschluss zu finden und sein Herz auszuschütten. Manchmal wird man diesen Orten untreu, wechselt das Klima, wenn alles zu stagnieren scheint. Die Stadt ist eine unendliche Kombination an möglichen Dörfern.
Als Kind schickt mich meine Mutter jede Woche mit einem Korb voll von Eiern unserer Hühner in den Nachbarort. Ich gehe über unser Feld, über den verlassenen Soldatenfriedhof und spaziere durch den Wald. Frau Bokan betreibt einen kleinen Laden mit Produkten aus der Umgebung. Ich stelle ihr den Korb auf den Tisch, und sie sagt: „Jetzt darfst dir was aussuchen.“Ich antworte immer gleich: „An Tschokolat.“– „Wie heißt das?“– „S-C-HO-K-O-L-A-D-E.“– „Nein, wie?“– „Bitte?“– „Na also, da hast ein Apferl!“– „Aber ...“Wir einigen uns als Kompromiss auf Gummierdbeeren, und ich gehe. Frau Bokan hat später ein Auto erwischt. Der Laden sperrte zu. Manchmal sehe ich sie noch im Wald. Ela fragt, ob ich aufgrund meiner Arbeit und Kindheit auf dem Friedhof Geister sehe? Ich sage: „Nein“, mehr nicht, aber in meinen Gedanken setzt sich der Satz fort, „ich selbst bin der Geist.“Ich spreche es nicht laut aus, denn es steckt zu viel Pathos darin. Jahrelang habe ich in der Stadt studiert, aber den Hörsaal kaum verlassen. Habe mich in irgendwelchen Ecken verkrochen, um zu lesen, um das Gehörte mit meinen Gedanken zu überschreiben, und an sonst nichts teilgenommen. In der Stadt habe ich mich nie zurechtgefunden, bis ich wieder zurück zum Friedhof ging. Ob ich Geister sehe? Nein! Ich bin der Geist.
Endloser Eindrucksnebel
Ela bleibt kurz bei einem Geschäft für Schönheitsprodukte stehen. Für ihre Parfumkolumne hat sie neue Düfte ausprobiert, und einer hat es ihr angetan. Sie bekommt neue Proben, und mir wird schwarz vor Augen. Die Auswahl erschlägt mich förmlich, kann die Gerüche im endlosen Eindrucksnebel nicht mehr zuordnen. All diese Düfte, sie haben nichts mit den billigen Plastikparfums zu tun, denen ich sonst im Theater, am Friedhof, im vorbeiziehenden Luftzug ausgesetzt bin – und doch ist es alles zu viel. Am Land rieche ich die Jahreszeiten.
Ich bin Totengräber. Ich habe Zeit. Ich warte nicht darauf, bis jemand stirbt. Das Sterben passiert und unterbricht mein Schreiben, das ich immer mache – auch wenn ich nicht schreibe. Ich grabe, um schreiben zu können. Ich schreibe, um graben zu können. All meine profanen Nebenjobs in der Stadt. Diese Einteilung von Geld in Zeit und umgekehrt. Ich habe es nie verstanden. Charon, das bin ich. Ich weiß nicht, ob ich mit dem Schreiben je etwas bewirken kann, ich zweifle und ver- zweifle an jedem Tag mehrere Male. Im Graben und Begraben liegt eine einfache Wahrheit. Ich erfülle einen Dienst am Menschen. Begleite sie auf dem letzten Weg. Mache mich unsichtbar, damit andere ihre Trauer ausleben können. Ein guter Totengräber ist wie der ideale Schiedsrichter – am besten ist er, wenn er gar nicht auffällt und das Spiel einfach am Laufen hält. Und manchmal diene ich einfach nur als Anschreiobjekt, damit die Hinterbliebenen ihrer Wut Raum geben können.
Ela führt mich in ihr Stammcafé. Ohne den Zusammenhalt der Familie hätte das Geschäft nicht so lange überlebt, erzählt sie mir. In den ersten Jahren waren sie Anfeindungen ausgesetzt, weil sie keine Hiesigen waren, weil sie etwas ändern, weil sie für sich eine neue Heimat schaffen wollten. An diesem Ort findet Ela Ansprache, hier trifft sie Freunde, hier ... Am Nebentisch ein schreibender Mensch. Das Notizbuch liegt offen, und ich erstarre. Der natürliche Gedanke der Flucht macht sich in mir breit. Wäre ich alleine, würde ich sofort verschwinden. Nichts ist schlimmer als Menschen die dasitzen und schreiben. Es ist wie ein Spiegel für mich, und ich kann an nichts anderes denken als an die Lächerlichkeit des eigenen Tuns.
Wir sprechen über die Kunst und den Narzissmus, den es dafür braucht und der mittlerweile als unabdingbares Selbstverständnis verkauft wird. Wir wandeln im ausschöpfenden Zeitalter der Egomanie. Menschen, die sich in einem Ausmaß wichtig und ernst nehmen, dass es wieder bedrohlich wird. Wo bleibt die Ironie in der völligen Übertreibung oder ist sie bereits wieder zur Wahrheit verkommen?
In der Kunst muss immer ein Geheimnis bleiben, sagt Ela, und ich denke darüber lange nach. Wir verabschieden uns. Ich schlendere weiter, setze mich in ein Bierlokal und stürze mich bis zur Sperrstunde ins Geräuschemeer.
Morgen graben.
ZUR PERSON Mario Schlembach, geb. 1985, aufgewachsen als Bauernsohn in Sommerein (NÖ). Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Philosophie und Literaturwissenschaft an der Uni Wien. Arbeitete u. a. als Lokalreporter, Postler und Totengräber. Zuletzt erschienen: „Nebel“(Otto-Müller-Verlag, 2018). reihen sich das Rathaus, das Wirtshaus, die Schule und ein paar Wohnhäuser. Etwas außerhalb liegt der Aussiedlerhof, den sich Mario Schlembach und seine Eltern teilen.
Ein ganzes Dorf trägt kurze Hosen – das ist die erste Headline, die mir in den Sinn kommt. Weil alle Männer, die uns an diesem Vormittag begegnen, „O’gschniedene“tragen, wie man die abgeschnittenen Beinkleider hier nennt. Vater Schlembach, ein ehemaliger Bauer, der uns sonnengebräunt und gut gelaunt auf seinem Hof empfängt, trägt die kürzesten. Eine Art Jeans-Hotpants, weshalb er für die Leute im Ort „der Hottie“ist. Sohn Mario sagt: „Wir können es uns leisten, die Beine zu zeigen.“
Eine himmlische Ruhe
Marios Wohnung auf dem Hof ist eine hübsche Junggesellenbude mit soliden Vintage-Möbeln von den Großeltern. Nur die Toilette wirkt wie ein Ufo. Das unbekannte Flugobjekt hat er im Internet gefunden. Schlembach junior sagt: „Ich wollte schon immer einen Thron.“– Als Stadtfrau würde man sich jederzeit ein Designer-Hochzeitskleid online kaufen. Hier lässt man sich per Mausklick ganze Sanitäranlagen liefern. Auch das ist das Land.
Schlembach zeigt uns den leeren Hühnerstall. Die achtzig Vögel rennen lieber auf der Wiese herum. Als Kundin überteuerter Hipster-Bio-Märkte in gentrifizierten Stadtbezirken stelle ich erleichtert fest: Zertifikat Freilandhaltung. Diesmal nicht
Einen Sündenpfuhl gibt es auch: die Tankstelle. Sogar das, gut überschaubar und leicht zu erledigen. Bei uns in der Stadt: tausend Irrwege, tausend verschiedene Codes. Hier geht alles auf eine Rechnung. Wobei die Glücksspiele, die im Hinterzimmer laufen, möglicherweise nicht alle ganz legal sind. Genaueres wissen die Gäste beim Schlembach nicht. Nach dem Omelett will uns Mario endlich seinen Friedhof zeigen. Er sagt: „In der Aufbewahrungshalle liegt grad einer.“Ich weigere mich, hineinzugehen. Vier Generationen von Tischlrückerinnen und Geisterbeschwörerinnen in meiner Familie haben mich vorsichtig gemacht. Mario schüttelt den Kopf: „Wir sehen keine Geister.“
Was auffällt unterwegs: kein Hupen, kein Baggerlärm, keine Vollbremsungen. Über dem ganzen Dorf liegt eine himmlische Ruhe. Würde ich so viel Erholung auf Dauer aushalten? Eventuell. Mit Meditation und exzessiver Gartenarbeit.
ZUR PERSON Ela Angerer lebt als Schriftstellerin in Wien. Im April arbeitete sie drei Wochen mit Mario Schlembach im Hotel Wasnerin in Bad Aussee. Er als Gewinner des ORF-3-Literaturnachwuchs-Förderprogramms, sie als seine Mentorin.
ALBUM Mag. Mia Eidlhuber (Redaktionsleitung) E-Mail: album@derStandard.at