Der Standard

„Es ist komplizier­t, es ist die Vergangenh­eit, nicht wichtig“

Persönlich­e Familienge­schichte: Mit „Rückkehr nach Lemberg“hat der britische Menschenre­chtsanwalt Philippe Sands ein gewichtige­s Buch über Galizien, den Holocaust und den Begriff Genozid geschriebe­n.

- Gerhard Zeillinger

Es sind nicht nur die eigenen Familienwu­rzeln, die den britischen Menschenre­chtsanwalt Philippe Sands nach Lemberg, heute Lwiw, zurückführ­en: 1904 wurde dort sein Großvater Leon Buchholz geboren, eine Zeitlang haben auch Hersch Lauterpach­t, Professor für Internatio­nales Recht, und Ralph Lemkin, Staats- und Rechtsanwa­lt, in Lemberg gelebt. Was sie neben dieser Herkunft verbindet, ist der Holocaust, im Wesentlich­en dessen rechtsphil­osophische Reflexion, denn Lauterpach­t und Lemkin waren beim Nürnberger Prozess in die juristisch­e Aufarbeitu­ng der NS-Verbrechen involviert, und sie brachten jeweils einen neuen Rechtsbegr­iff ein:

Der eine, Hersch Lauterpach­t, schuf den Begriff „Verbrechen gegen die Menschlich­keit“, Ralph Lemkin wiederum prägte den Begriff „Genozid“als Straftatbe­stand, er hatte sich mit dem Thema schon während seines Studiums an der Lemberger Universitä­t intensiv auseinande­rgesetzt, Anlass war der Völkermord an den Armeniern. 1939 flüchtete Lemkin nach Schweden und anschließe­nd in die USA.

Lauterpach­t war nach dem Ersten Weltkrieg nach Wien und später nach England übersiedel­t. Und auch Leon Buchholz, der Großvater des britischen Autors, hat Lemberg schon früh den Rücken gekehrt und wurde in der Zwischenkr­iegszeit Spirituose­nerzeuger in Wien. Als er 1998 in Paris starb, schreibt der Enkel, nahm er „Lemberg mit ins Grab“, die Vergangenh­eit war für ihn tabu: „Es ist komplizier­t, es ist die Vergangenh­eit, nicht wichtig.“

Nicht reden wollen

Über die Familie, die im Holocaust umkam, wollte er nicht sprechen, oder eigentlich, er wollte über den Holocaust nicht reden. „C’est compliqué.“Dabei hat Leon als Einziger seiner Familie überlebt, und die zählte „siebzig oder mehr“Mitglieder. „Er hatte mir nie gesagt, dass jede einzelne Person aus seiner Kindheit, jedes einzelne Mitglied der großen galizische­n Familien Buchholz und Flaschner ermordet worden war.“

Hier kommt nun eine weitere Person ins Spiel: Hans Frank, Hitlers Rechtsanwa­lt, höchster Jurist im Dritten Reich und schließlic­h Generalgou­verneur des besetzten Polen, mitverantw­ortlich an der Ermordung der europäisch­en Ju- den, wofür er 1946 in Nürnberg zum Tod verurteilt und hingericht­et wurde.

Diese vier Männer, die sich persönlich nie begegnet sind, in einen nachvollzi­ehbaren Zusammenha­ng zu bringen ist eine Leistung für sich. Eigentlich sind es mehrere Bücher in einem, was dem Leser nicht gerade die Lektüre spannend macht, Lemberg bleibt dabei ohnehin ein ferner Ort. Da mag der Buchtitel im Original schon treffender sein: East West Street. Nicht Lemberg ist die gemeinsame Klammer, sondern das, was der Untertitel sehr deutlich formuliert: „Über die Ursprünge von Genozid und Verbrechen gegen die Menschlich­keit. Eine persönlich­e Geschichte“.

Dass die „persönlich­e Geschichte“, die von Sands Großvater, und damit der eigenen Herkunft, zwar gedanklich, aber nicht wirklich erzähleris­ch in diese großangele­gte rechtsgesc­hichtliche Reflexion passt, ist eine andere Sache.

Nimmt man dieses Buch als Dokumentat­ion, als Auseinande­rsetzung mit der Frage von Recht und Moral, dann haben wir es hier mit einem bedeutsame­n Werk zu tun. Soll es ein Stück Literatur, gar die große Erzählung sein, dann ist dieser Text viel zu weitläufig, zu detailreic­h, auch wird zu oft die eigene Befindlich­keit des Autors ausgebreit­et, da wird dann jeder einzelne Recherches­chritt berichtet – das ist weder notwendig noch von Belang, vor allem wirkt es lehrerhaft umständlic­h und erklärt dann auch den Umfang des Buches, fast 600 Seiten.

Trinken Sie ohne Furcht!

Zudem ist die Übersetzun­g sprachlich nicht immer auf der Höhe, was bei einem so umfangreic­hen Text nicht verwundert, wenn man bedenkt, wie schnell Übersetzun­gen heutzutage fertig sein müssen. Unangenehm­er sind topografis­che und leider auch historisch­e Fehler, da wurde offenbar schlampig recherchie­rt. Wenn von „Ausflügen ins nahe Leopoldsbe­rg, nördlich von Wien“die Rede ist oder dass die Brigittena­u ganz nah am Flugfeld Aspern liegt, dann ist das in erster Linie der Ortsunkenn­tnis geschuldet. Peinlicher ist, wenn man von der „sozialisti­schen Neuen Freien Presse“lesen muss. Auch war es nicht Seyß-Inquart, der Adolf Eichmann mit der Errichtung der Zentralste­lle für jüdische Auswanderu­ng beauftragt hat, und im Oktober 1941 wurden von Wien aus nicht 50.000 Juden ins Ghetto nach Litzmannst­adt deportiert, sondern 5000. Nun mögen diese Fehler so im englischen Original stehen, aber gerade von einem Verlag wie S. Fischer würde man sich ein sorgfältig­eres Lektorat erwarten.

Merkwürdig wäre auch diese Stelle, wo es heißt, dass Hans Frank „ein böhmisches Kristallgl­as mit tiefrotem Türkenblut hob“. Welcher Leser weiß schon, dass das in den 1920er-Jahren ein beliebter Mode-Aperitif war: Sekt mit einem Schuss Rotwein. Richtig befremdlic­h wird es im Kontext, denn Frank prostet damit seinem Gast, dem italienisc­hen Schriftste­ller Curzio Malaparte, zu, mit den Worten:

„Trinken Sie ohne Furcht, mein lieber Malaparte; dies ist kein Judenblut. Prosit!“

 ??  ?? Postkarte von Lemberg, Sands Buchtitel im Original ist jedoch treffender: „East West Street“. Nicht Lemberg ist die gemeinsame Klammer, sondern der Genozid.
Postkarte von Lemberg, Sands Buchtitel im Original ist jedoch treffender: „East West Street“. Nicht Lemberg ist die gemeinsame Klammer, sondern der Genozid.
 ??  ?? Philippe Sands, „Rückkehr nach Lemberg“. € 26,80 / 591 Seiten. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2018
Philippe Sands, „Rückkehr nach Lemberg“. € 26,80 / 591 Seiten. S.-Fischer-Verlag, Frankfurt am Main 2018

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