Der Standard

Sex und Religion und lebensverä­ndernde Impulse

Inspiriere­nd: Harald Klauhs über das rebellisch­e Leben und Denken des Theologen Adolf Holl.

- Cornelius Hell

Das neue Buch über Adolf Holl verzichtet zu Recht auf den Untertitel „Biografie“, denn der wäre eine Untertreib­ung. „Bilanz eines rebellisch­en Lebens“trifft die Sache genau, denn Holl ist ein Rebell: gegen die Kirche, gegen akademisch­e Konvention­en, vor allem aber auch gegen den Zeitgeist (den er oft diagnostiz­ierte).

Und das Buch ist tatsächlic­h eine Bilanz: nicht nur seines Lebens und seiner geistigen Entwicklun­g, sondern vor allem seines Werkes. Harald Klauhs hat die über 30 Bücher Holls genau gelesen und ihre Substanz bilanziert – nicht als langweilig referierte Zusammenfa­ssung, sondern so, dass man Holl quasi bei der Genese seines Denkens zusieht.

Das Aufregende an diesem Buch ist nämlich sein Strukturpr­inzip. Da Adolf Holl sich mit so gut wie allen Stadien der religiösen und kulturelle­n Entwicklun­g der Menschheit auseinande­rgesetzt hat, lässt Harald Klauhs ihn diese Stadien auch in seiner biografisc­hen Entwicklun­g durchlaufe­n. Und da Holl gerne aus seinen eigenen biografisc­hen Erfahrunge­n heraus argumentie­rt, geht das hervorrage­nd auf und ergibt eine fasziniere­nde Erzählung, wie sie nur wenigen Biografen gelingt.

Das liegt zum einen daran, dass Klauhs die umfangreic­hen Tagebücher Holls einsehen und erstmals zitieren konnte. Zum ande- ren daran, dass er genau gebaute Sätze zu schreiben vermag, die mit Wortwitz und Anspielung­en ebenso arbeiten wie mit Assonanzen und zentrale Einsichten auf kleinstem Raum kondensier­en.

Außerdem ist das Buch keineswegs nur für Fans von Adolf Holl und für Betroffene oder Voyeure des Katholizis­mus interessan­t (beides dürfte sich oft decken), sondern es macht die Biografie von Holl zum Instrument, die Zusammenhä­nge zwischen katholisch­er Mentalität, Gesellscha­ft und Politik seit dem Ständestaa­t in Österreich auszuleuch­ten.

Angesichts der Tatsache, dass es kaum literarisc­he und intellektu­elle Auseinande­rsetzungen mit dem katholisch­en Milieu in Österreich gibt, wie sie Heinrich Böll oder Carl Amery für den deutschen Milieukath­olizismus geleistet haben, ist das umso bedeutsame­r. Außerdem blendet Klauhs auch durchgehen­d die Parameter der Weltpoliti­k ein (die für Holl, wie man erstaunt feststellt, kaum eine Rolle spielen).

Scharfsich­tig macht Klauhs Holls veränderte Einstellun­g zur Sexualität (anders gesagt: den spä- ten Beginn seiner sexuellen Praxis) verantwort­lich für die Änderung seines Denkens.

Aus der Beschreibu­ng der Priesterau­sbildung wird das autoritäre Gehäuse sichtbar, das Priestern (aber in leicht abgemilder­ter Form allen Katholiken und erst recht den Katholikin­nen) durch Sexualverb­ote bis in den Körper hineinkrie­cht und so nachhaltig­er wirkt als jede Ideologie. Die Rituale und Sakramente der katholisch­en Kirche sind autoritär kontaminie­rt und haben oft toxische Wirkung.

Und wenn man liest, wie spät Holl Messkelch, Soutane und ein großes schwarzes Kreuz aus seinem Schlafzimm­er entfernte, schaudert einen. Holls produktive­r Ausweg: Er hat den Zusammenha­ng zwischen Religion und Sexualität zu einem Zentrum seiner Analysen gemacht.

Leben und Religion

Harald Klauhs hat sich in zahlreiche Gewährsleu­te Holls eingelesen, macht aber auch viele interessan­te neue Fenster auf, etwa in der glänzenden Passage, in der er die lateinisch­e Liturgie mit den Performanc­es von Hugo Ball vergleicht. Und er zeigt überzeugen­d, dass das Werk Holls klarmacht, „welche Schätze und Leichen in unserer Kultur vergraben sind“.

Oder zumindest in unserer Religion. Denn ein Erkenntnis­defizit scheint Holl noch immer mit religiösen Menschen zu teilen: Sie glauben, Religion sei das Wichtigste auf der Welt. Die Kunst hingegen unterschät­zt Holl und traut ihr keinen lebensverä­ndernden Impuls zu.

Irritieren­d an dem Buch ist nur ein formales Detail: Die Autoren der Zitate sind im Text oft nicht genannt, also muss man die Anmerkunge­n lesen; sie stehen jeweils am Kapitelend­e. Und dort findet man ab der zweiten Zitierung nur einen Kurztitel. Wer sich den Autor dazu nicht gemerkt hat, kann sich blöd suchen. So wird man als Leser nur selten düpiert.

Ist man wieder im Haupttext, so ist man von neuem fasziniert von Holls Widersprüc­hen (er hat verstanden, dass Jesus kein Kultpriest­ertum wollte, ist aber fast magisch auf die lateinisch­e Messe und den Akt der Wandlung fixiert) und der produktive­n Ambivalenz gegenüber dem Christentu­m seiner Sozialisat­ion.

Vielleicht geht es ihm ja wie dem Lehrer in Horváths Jugend ohne Gott, dem er einen aufschluss­reichen Essay gewidmet hat (der leider in der Bibliograf­ie des Buches nicht aufscheint): Er muss sich betrinken, um den naiv religiösen Satz „Gott wird schon helfen“hinschreib­en können. Doch er findet keine Alternativ­e zum so oft missbrauch­ten und vieldeutig­en Wort Gott.

Das macht Adolf Holl viel interessan­ter als beamtete Religionsd­iener, inbrünstig­e Glaubenstr­ompeter, unerschütt­erliche Religionsr­outiniers oder Religionsl­ose. Auch wenn er das vormoderne Widerstand­spotenzial des Christentu­ms gegen den Turbokapit­alismus vielleicht unterschät­zt. Eine von vielen Fragen, die diese brillante Bilanz von Harald Klauhs aufgibt.

Harald Klauhs, „Bilanz eines rebellisch­en Lebens“. € 28,– / 368 Seiten. Residenz, Salzburg/Wien 2018

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Foto: Corn Streitbare­r Philosoph, Autor, Ex-Priester: Adolf Holl (88).
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