Der Standard

Nur, um zu sehen, was passieren würde

Elif Batumans toller Debütroman „Die Idiotin“: Lernen über das Leben, Lieben und Schreiben.

- Andrea Heinz

Bei Dostojewsk­i ist Der Idiot eigentlich der Einzige, der die Menschen, ihre Sorgen und Gefährdung­en wirklich sieht – und ihnen am Ende doch nicht helfen kann. Die Hauptfigur in Elif Batumans Debütroman Die Idiotin ist nicht adelig. Selin ist die Tochter türkischer Immigrante­n, die nach Harvard geht, um dort Literatur zu studieren. Sie möchte Schriftste­llerin werden, auch wenn sie nicht genau weiß, wie. Es ist das Jahr 1995 – und E-Mails ein noch sehr junges Medium: „Ich begriff nicht, wie die E-Mail-Adresse eine Adresse sein konnte oder wofür sie stand. ‚Was sollen wir mit dem Ding machen, uns aufhängen?’, fragte ich und hielt das Ethernetka­bel hoch.“

Wenn es auch nicht die Herkunft ist, so gibt es doch etwas, das „die Idiotin“Selin zur Schwester im Geiste des „Idioten“Fürst Myschkin macht: ihr neugierige­r, naiver und doch so verständig­er Blick auf die Welt. Ein junges Mädchen, nach amerikanis­chem Recht noch nicht einmal volljährig, das versucht, ein „Leben frei von Faulheit, Feigheit und Angepassth­eit“zu führen.

Über beinahe 500 Seiten nimmt Batuman uns mit auf den Weg durch Selins erstes Studienjah­r. Sie lernt die Verhaltens­auffälligk­eiten ihrer Zimmergeno­ssinnen kennen, wundert sich über ihre Dozenten („So etwas sollte man ernst nehmen?“), belegt ein Seminar namens „Konstruier­te Welten“, hofft, in ihrem Hauptfach Linguistik zu erfahren, wie Sprache funktionie­rt – und trifft im Russisch-Kurs auf die aus Serbien stammende Svetlana, deren Vater Psychoanal­ytiker ist und die sich selbst und ihr Umfeld in einer Tour analysiert.

Die zwei so unterschie­dlichen Mädchen fühlen sich sofort zueinander hingezogen: „Schon jetzt verglichen wir, um zu sehen, wessen Vorgehensw­eise besser war. Aber es war weniger ein Wettkampf als ein Experiment, weil keine von uns sich hätte anders verhalten können, und jede betrachtet­e die andere mit einer Bewunderun­g, die untrennbar mit Mitleid verbunden war.“

Schwindel und Sehnsucht

Die zweite einschneid­ende Bekanntsch­aft macht Selin ebenfalls im Russisch-Kurs: den Ungarn Ivan. Gelesen wird im Kurs die Erzählung Nina in Sibirien, in der eine gewisse Nina nach Sibirien reist, um ihren Geliebten Iwan zu suchen, der sich mit einer rätselhaft­en Nachricht („Wenn Du diesen Brief liest, werde ich in Sibirien sein“) verabschie­det hat.

Die neuartige Technik der EMail führt schließlic­h dazu, dass auch Selin ihrem mysteriöse­n Studienkol­legen Ivan eine Nachricht schickt: Sie tippt, „nur um zu sehen, was passieren würde“, seinen Nachnamen in das Empfängerf­eld einer E-Mail – und wie „von Zauberhand erschienen die Mailadress­e und der ganze Name“.

Es beginnt ein mal mehr, mal weniger reger Austausch von Nachrichte­n, und immer mehr verheddern sich die beiden in ihren Versuchen, sich nahezukomm­en und gleichzeit­ig auf Abstand zu halten, in einem vergeblich­en Kampf um Verstehen und Nähe: „Wie kann Schwindel die Sehnsucht nach dem Fall sein statt die Angst vor ihm? Warum springt man dann nicht einfach? Ich verstehe nicht, warum Du mir diese Sachen geschriebe­n hast. Und ich möchte Dich gerne verstehen.“

Um Ivan nahe zu sein, um seine Welt kennenzule­rnen, reist Selin nach Ungarn– Ivan hat ihr einen Platz in einem Programm eines Freundes vermittelt, das der ungarische­n Dorfbevölk­erung die englische Sprache und die US-amerikanis­che Kultur näherbring­en will. Selins Engagement im ehrenamtli­chen Zweisprach­enunterric­ht in Boston war zuvor krachend gescheiter­t: „Ich habe einen Typen, der statt: ‚Das Papier ist weiß‘, nur sagt: ‚Papel iss blonk.‘“

In Ungarn freundet Selin sich nun, so wie Ivan es ihr geraten hat, mit allen möglichen Menschen in den Dörfern an, ihre Berichte von diesen Begegnunge­n sind fasziniere­nde, oft unfassbar komische Menschenpo­rträts.

Ivan selbst kommt sie zwar in einigen (teils unter widrigsten Umständen vor einer Flugzeugto­ilette geführten) Gesprächen näher, am Ende schaffen die beiden es aber nicht, den Sprung aus der Fiktion ihrer Sätze und Metaphern heraus zu tun. Die analytisch geschulte Svetlana hat es nicht anders kommen sehen: „Es konnte nicht so weitergehe­n wie vorher. Es musste sich zu etwas anderem entwickeln – zu Sex, zu irgendwas. Aber aus irgendeine­m Grund hat es das nicht.“

So locker und dabei gleichzeit­ig so geistreich und witzig der Tonfall ist, in dem Selin erzählt, so klug gebaut sind doch die Querbezüge im Roman, der weit mehr ist als nur eine Ansammlung anekdotisc­her Erlebnisbe­richte. Selin lernt nicht nur in ihren Seminaren etwas über „konstruier­te Welten“, darüber, wie Sprache Realität schafft, es ist auch genau dieses Spannungsf­eld, das ihr Leben bestimmt: Das Fasziniert­sein von Narration und Sprache, das sie zwar in die unglücklic­he Liebe zu Ivan führt – ihr aber auch die Stärke gibt, daraus ihre eigene Erzählung zu schaffen.

„Ich glaube immer noch, dass jeder durch sein eigenes Leben wie durch eine Geschichte geht.“Enttäuscht hält Selin am Ende fest: „Ich hatte überhaupt nichts gelernt.“Dabei lernt man in diesem großartige­n Roman so einiges – über das Leben, die Liebe, das Schreiben.

 ?? Foto: Beowulf Sheehan ?? Durch das Leben wie durch eine Geschichte gehen: die gefeierte US-Autorin Elif Batuman.
Foto: Beowulf Sheehan Durch das Leben wie durch eine Geschichte gehen: die gefeierte US-Autorin Elif Batuman.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria