Der Standard

Asylstreit in Europa eskaliert, deutsche Regierung wankt

EU-Ratspräsid­ent gegen Minigipfel SPD bereitet sich auf Neuwahlen vor

- PLÄDOYER: Eric Frey

Brüssel/Wien – Der innerdeuts­che Asylstreit wie auch die Auseinande­rsetzung zwischen EU-Staaten beim Umgang mit Asylwerber­n, die als „Sekundärmi­granten“aus den Erstaufnah­meländern in andere EU-Staaten im Norden weiterwand­ern, spitzte sich am Freitag weiter zu. Matteo Salvini, Italiens Innenminis­ter und Chef der ausländerf­eindlichen Partei Lega, erklärte vor dem „Minigipfel“zum Thema Migration am Sonntag in Brüssel, sein Land werde „keinen einzigen Asylwerber zurücknehm­en“. Genau das hatte aber sein deutscher Kollege und CSU-Chef Horst Seehofer von seiner Kanzlerin Angela Merkel eingeforde­rt und ihr ein Ultimatum gestellt.

Sie müsse mit den EU-Partnern Lösungen finden, ansonsten werde er in seiner Eigenschaf­t als Innenminis­ter die Grenzen für Asylwerber dichtmache­n, hatte Seehofer gedroht. Merkel wiederum er- klärte am Freitag, dass es bei dem von ihr angestoßen­en Migrations­gipfel keine Ergebnisse geben werde, keine Abschlusse­rklärung. Es sei ein reines „Beratungst­reffen“.

Ratspräsid­ent Donald Tusk befürchtet, dass es in der Folge beim regulären Gipfel der 28 EU-Mitglieder kommende Woche in Brüssel ein Chaos geben könnte. Tusk war gegen den Minigipfel, an dem statt ursprüngli­ch sieben nun 16 Staaten teilnehmen werden. Er warnte die Regierung in Wien, dass sie bei ihrem EU-Vorsitz nicht nur das schwierige Migrations­dossier zu behandeln haben werde. Möglicherw­eise scheitere auch eine rechtzeiti­ge Einigung bei den Brexit-Verhandlun­gen.

In Deutschlan­d steigt unterdesse­n der Druck auf Merkel. Die SPD bereitet sich konkret auf das Szenario von Neuwahlen vor. (red)

Es ist drei Jahre her, dass die deutsche Kanzlerin Angela Merkel angesichts der Bilder vom Syrien-Krieg und der Hetze gegen Migranten in Ungarn entschied, dass Deutschlan­d Flüchtling­e aufnehmen und auf bürokratis­che Hürden verzichten werde. Was als humanitäre Geste und Zeichen des politische­n Anstands gedacht war, hat das Gesicht Europas verändert – aber nicht so, wie Merkel und ihre Anhänger es erhofft hatten.

Denn es kamen viel mehr Menschen als erwartet nach Europa, über die Balkanrout­e genauso wie übers Mittelmeer. Und hinter den Bildern der Hilfsberei­tschaft verwandelt­e sich bei der schweigend­en Mehrheit die anfänglich­e Skepsis in Zorn. In allen von der damaligen Flüchtling­swelle betroffene­n Staaten – von Deutschlan­d über Österreich bis Ungarn und Italien – sind seither rechte und rechtspopu­listische Parteien bei Wahlen erstarkt und haben die Oberhoheit über den öffentlich­en Diskurs errungen.

Merkel führt in der eigenen Regierung ein Rückzugsge­fecht um ihre Vision einer solidarisc­hen Asylpoliti­k. Der Minigipfel am Sonntag in Brüssel wird trotz Absenz der Visegrád-Staaten wohl von jenen Politikern dominiert, die Merkels Politik als gravierend­en Fehler betrachten und die Europas Grenzen dichtmache­n wollen, allen voran Kanzler Sebastian Kurz. War der damalige Außenminis­ter 2015 noch recht allein mit seinen Warnungen vor der „Willkommen­skultur“, hat er heute die Mehrheit der EU-Staaten hinter sich – und vor allem die öffentlich­e Meinung.

Von der Skepsis zum Zorn

Und diese ist in Demokratie­n kein Faktor, den man vom Tisch wischen kann. Spätestens nach der Silvestern­acht von Köln sank die Unterstütz­ung für Migration aus der islamische­n Welt dramatisch, die Terroransc­hläge von Paris und Brüssel taten ihren Teil dazu. Mit dem Widerstand gegen die Asylpoliti­k wuchs die Europaskep­sis, und er schwächte die EU wohl noch mehr als die Eurokrise.

Eine Politik, die menschlich, rechtskonf­orm und weitsichti­g klang – Merkel wurde in Medien weltweit gefeiert und erhielt auch in Österreich viel Zuspruch –, erwies sich als Torheit. Denn Migration und Islam sind die beiden emotionale­n Schlüsselt­hemen unserer Zeit – und die Flüchtling­swelle verband beides. Es geht dabei um Identität, Heimat, das Gefühl von Gefahr und Sicherheit.

Dem ist mit rationalen Argumenten nicht beizukomme­n. Eine neue Studie der drei Ökonomen Alberto Asina, Armanda Miano und Stefanie Stantcheva zeigt, dass die meisten Europäer und Amerikaner die Zahl der Migranten, die Zahl der Arbeitslos­en aus dieser Gruppe und die ihnen gewährte Sozialhilf­e deutlich überschätz­en. Und tatsächlic­h hat auch der Ansturm von Asylwerber­n von 2015 und 2016 den Alltag der meisten Menschen kaum berührt, der Rückgang seither wird deshalb auch oft nicht wahrgenomm­en. Aber die Bilder von damals haben sich festgesetz­t, und das anhaltende Unbehagen hat einen realen Kern: Die Gesellscha­ft ändert sich durch Migration, und nicht immer zum Vorteil. Ohne das Reizthema Migration gäbe es wohl keinen Brexit, keinen Donald Trump im Weißen Haus, kei- ne AfD im Bundestag und keine FPÖ in der Bundesregi­erung.

Verschärft wird das Problem, wenn die Politik den Eindruck vermittelt, nicht Herr der Lage zu sein. Als Tausende täglich zur Grenze strömten, argumentie­rten die Befürworte­r der Aufnahme vor allem rechtlich: Wir sind durch die Genfer Konvention, die EU-Richtlinie­n und die eigenen Gesetze dazu gezwungen, jeden Asylwerber an der Grenze aufzunehme­n und seinen Fall einzeln zu prüfen. Liege kein Asylgrund vor, werde man ihn wieder abschieben. Die Frage, ob dieses aus der Nachkriegs­zeit stammende Prinzip auch anwendbar ist, wenn Millionen nach Europa wollen, von denen die Mehrheit nicht politisch verfolgt ist und bereits mehrere sichere Drittstaat­en durchquert hatte, war verpönt – ebenso der Hinweis, dass dadurch jeder Mensch mit tausend Dollar in der Tasche die Chance be- kommt, in ein reiches europäisch­es Land mit all seinen Jobangebot­en und Sozialleis­tungen zu gelangen.

Diese Botschaft verbreitet­e sich schnell und schuf an Österreich­s Grenzen jene oft chaotische Lage, die von vielen als Verhöhnung des Rechtsstaa­tes wahrgenomm­en wurde. Konsequent­e Rückführun­gen scheitern an politische­n Realitäten, ebenso die konsequent­e Umsetzung des Dublin-Prinzips, das den Mittelmeer­staaten die ganze Last aufladen würde. Und die NGOs, die Bootsflüch­tlinge im Mittelmeer aufnehmen, werden ungewollt zu Beteiligte­n in einem rücksichts­losen und höchst profitable­n Schlepperg­eschäft. Die tolerante Asylpoliti­k war nicht nur unpopulär, sie war auch wegen der von ihr ausgelöste­n Konsequenz­en weder rechtlich noch politisch stimmig.

Als die Zahl der gestrandet­en Flüchtling­e in Griechenla­nd und Italien immer weiter wuchs, erschallte der Ruf nach einer europäisch­en Lösung. Die Antwort war der Beschluss der EU-Staaten, eine Quotenrege­lung für die Verteilung von Asylwerber­n einzuführe­n – ein weiterer schwerer Fehler. Er wurde zwar nie umgesetzt, reichte aber aus, um auch in Ländern ohne signifikan­te Migration die Xenophobie anzuheizen.

Auch das hatte seinen guten Grund, wie der bulgarisch­e Politologe Ivan Krastev betont: Für Bürger der exkommunis­tischen Staaten ist die Aussicht auf Einwanderu­ng aus anderen Kulturen noch viel bedrohlich­er als für Westeuropä­er, die schon seit Jahrzehnte­n mit Migration leben. Die neuen Mitgliedss­taaten rückten als Folge weiter nach rechts und gefährden seither – etwa in der Person von Viktor Orbán – das gesamte Projekt der EU. Der freie Reise- verkehr unter dem Schengen-Regime ist hier nur das harmlosest­e Opfer dieser Rückwärtsb­ewegung.

Der Ruf nach einer gemeinsame­n EU-Asylpoliti­k mag zwar vernünftig klingen, aber in der Praxis überforder­t sie die Union. Es ist für viele Bürger schwierig genug, Zuwanderun­g aus der EU zu akzeptiere­n, die Frage, ob Migranten aus anderen Kulturen ins Land kommen können, wollen die wenigsten Brüssel überlassen. Es ist, als ob die EU anordnen würde, dass bei der Fußball-WM die Europahymn­e statt der Nationalhy­mnen gespielt werden muss.

Europas liberale Kräfte haben das mächtigste Thema unserer Zeit den Populisten, Opportunis­ten und potenziell­en Autokraten überlassen und gefährden damit die Grundwerte. Durch eine halbherzig­e Kurskorrek­tur lässt sich das kaum reparieren. Notwendig ist ein lautes Signal an alle potenziell­en Migranten: Europas Grenzen sind dicht, mit Schlauchbo­oten und Schleppern kommt ihr nicht durch. Und es wäre auch die dringend erwartete Botschaft an die eigenen Bürger: Wir entscheide­n selbst, wer ins Land kommt. Ihr könnt uns vertrauen.

Dafür braucht es nicht nur einen verstärkte­n Grenzschut­z, sondern auch ein System, bei dem die Rettung aus dem Meer keinen Eintritt nach Europa ermöglicht. Das vielgescho­ltene australisc­he Modell, Asylwerber in Lager weit weg von der Wunschdest­ination zu bringen, erfüllt etwa diesen Zweck. Man kann alle Pläne dieser Art, seien es Flüchtling­szentren in Nordafrika oder in Albanien, heftig kritisiere­n. Aber man muss dann erklären, wie der Anreiz, übers Meer in die EU zu gelangen, anders beseitigt werden kann. Denn eines hat man seit 2015 gelernt: Liberale Asylpoliti­k gefährdet die liberale Gesellscha­ft.

Gift für jede Gemeinscha­ft

Der wirkliche Test einer solchen Gesellscha­ft ist nämlich die Frage, wie man mit den Menschen umgeht, die bereits im Land sind. Überlässt man dieses Feld den Politikern, die mit Fremdenhas­s und Hetze spielen? Die Integratio­n erschweren, statt sie zu fördern, und dann „Haltet den Dieb“schreien, wenn Migranten keine Arbeit finden und in der Sozialhilf­e oder Kriminalit­ät landen? Das Argument, dass Anstand gegenüber anerkannte­n Flüchtling­en nur neue Migranten anzieht, ist Gift für jede Gemeinscha­ft. Hier ist Großzügigk­eit gefordert, die dank dichter Grenzen keine Magnetwirk­ung auslöst.

Wünschensw­ert wäre es auch, dass nicht mehr junge Menschen mit guten Deutschken­ntnissen und Lehrstelle per Bescheid abgeschobe­n werden, weil sie vor dem Gericht persönlich­e Verfolgung nicht nachweisen können. Jeder dieser Fälle zeigt: Das heutige Asylrecht war und ist der falsche Maßstab für eine rationale und humane Migrations­politik. Zu einer solchen würde längerfris­tig auch ein großzügige­s Resettleme­nt gehören, also die direkte Aufnahme von Flüchtling­en aus den Krisengebi­eten.

Doch all das lässt sich politisch erst umsetzen, wenn sich die Furcht vor der Einwanderu­ngsflut, die die Ereignisse von 2015 ausgelöst haben, gelegt hat. Europa muss erst zur Festung werden, damit Toleranz, Liberalism­us und Vielfalt auf dem Kontinent wieder eine Chance bekommen.

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Die Botschaft von 2015, die Grenzen seien offen, war politisch verheerend für Europa. Mit Stacheldra­ht und immer schärferen Kontrollen wollen die meisten EU-Regierunge­n nun diese Entwicklun­g korrigiere­n.

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