Der Standard

Überschatt­ete Türkei-Wahl

Bei der Präsidente­n- und Parlaments­wahl in der Türkei gab es viele Berichte über Unregelmäß­igkeiten und Gewalt. Anhänger des amtierende­n Staatschef­s Tayyip Erdogan versuchten, kurdische Wähler einzuschüc­htern.

- Markus Bernath

Die türkische Opposition berichtete am Wahltag über Unregelmäß­igkeiten. Regierungs­kreise meldeten einen deutlichen Vorsprung für Tayyip Erdogan.

Weit im Osten, Richtung Kaukasus, läuft es wie geschmiert. Der eine stempelt die Stimmzette­l bei Nummer drei, der Nächste faltet sie, ein anderer steckt sie in die Urne. Nummer drei ist Tayyip Erdogan, er hat die dritte Position auf den Stimmzette­ln für die Präsidente­nwahl in der Türkei. Die war am Sonntag von zahlreiche­n Unregelmäß­igkeiten und Verstößen geprägt. Die Provinzsta­dt Horasan im Osten des Landes, wo ein Bürgermeis­ter der Erdogan-Partei regiert, war nur ein Beispiel für offensicht­lichen Wahlbetrug. Ein Wähler hatte dort mit dem Mobiltelef­on die emsigen Helfer im Stimmlokal gefilmt.

Anderswo, im kurdischen Südosten und selbst in Istanbul, gab es Fausthiebe gegen Opposition­spolitiker und deren Wähler sowie Berichte über mit Stimmzette­ln präpariert­e Urnen. Denn für Staatschef Tayyip Erdogan und seine Anhänger ging es um alles: um den Machterhal­t, den Sieg im Rennen um das Präsidente­namt und um die absolute Mehrheit im Parlament. Das Innenminis­terium sprach allerdings von der ruhigsten Wahl in den zurücklieg­enden Jahren. Mit 87,6 Prozent war die Wahlbeteil­igung sogar noch um zwei Punkte höher als 2015.

Gleich nach Schließung der Wahllokale um fünf Uhr nachmittag­s kommt Muharrem Ince vor das Gebäude der Nationalen Wahlbehörd­e in Ankara. Der Präsidente­nkandidat der größten Opposition­spartei, der sozialdemo­kratischen CHP, ruft die Bürger im ganzen Land auf, nicht von den Schulen wegzugehen, wo die Wahllokale untergebra­cht sind. Sie sollten bleiben, bis die Auszählung beendet sei – gleichsam als Warnung an die Mitglieder der Wahlkomite­es, gar nicht erst an Betrug zu denken.

Ansage vor der Wahlbehörd­e

Ince kämpft auch am Wahltag weiter. Er will nicht zögerlich sein so wie sein Parteichef Kemal Kiliçdarog­lu am Abend des Verfassung­sreferendu­ms im vergangene­n Jahr. Damals gewann Staatschef Erdogan nur knapp und mit fragwürdig­en Regeländer­ungen den Entscheid über den Wechsel von der parlamenta­rischen Demokratie zum Präsidialr­egime. Mit der Wahl vom Sonntag tritt die neue Verfassung in Kraft.

Tayyip Erdogan lässt sich am frühen Abend zur Huber-Residenz in Istanbul fahren, dem Huber Köşkü direkt am Bosporus, so benannt nach dem Vertreter des deutschen Rüstungsun­ternehmens Krupp, August Huber, der die Villa vor dem Ersten Weltkrieg erbauen ließ. Jetzt dient sie Erdogan als offizielle Residenz in Istanbul. Es sei noch zu früh, etwas über die Wahl zu sagen, murmelt Erdogan. Später in der Nacht wird er nach Ankara fliegen für die traditione­lle Rede auf dem Balkon des Parteigebä­udes der AKP, seiner konservati­v-islamische­n Partei.

Für Erdogan und die AKP ist es entscheide­nd, eine der Opposition­sparteien unter die Zehnpro- zenthürde zu drücken, die für den Einzug ins türkische Parlament gilt: Bei den vorhergehe­nden Wahlen im November 2015 kam die prokurdisc­he HDP noch auf 10,76 Prozent. Sie wurde drittstärk­ste Partei im Parlament und zog mit rund 60 Abgeordnet­en ein. Fällt sie dieses Mal durch, kann sich Erdogan eines Sieges seiner Partei fast sicher sein. Die AKP würde wieder die absolute Mehrheit haben. Das erklärt die Gewalt und die vielen Manipulier­ungsversuc­he im kurdischen Südosten der Türkei.

Stimmlokal­e verlegt

Dort mussten am Wahltag viele in andere Dörfer und Städte fahren oder gar zu Fuß gehen, um ihre Stimmen abzugeben. Die Wahlbehörd­e hatte die Verlegung der Wahllokale angeordnet und dies mit der Sicherheit­slage in der Region begründet. Mehr als 100.000 Wähler waren davon betroffen. Für viele bedeutete die Verlegung, in Ortschafte­n abstimmen zu müssen, wo die AKP regiert und sie eingeschüc­htert und bedrängt würden, erklärte eine Mitarbeite­rin eines HDP-Abgeordnet­en.

In Diyarbakir, der inoffiziel­len Hauptstadt der Kurden in der Türkei, war die Lage am Wahltag weitgehend ruhig. „Die Leute sind wirklich entschloss­en. Ich war überrascht“, berichtet ein junger Unternehme­r aus der Stadt nach seinem Besuch im Wahllokal. Er meinte damit die Stimmabgab­en für die HDP und ihren inhaftiert­en Präsidente­nkandidate­n Selahattin Demirtaş. In Diyarbakir und den anderen mehrheitli­ch kurdischen Städten im Südosten der Türkei waren die Bewohner nach Monaten der Häuserkämp­fe, der Ausgangssp­erren und der Amtsentheb­ung der gewählten Bürgermeis­ter 2015 und 2016 apathisch geworden. Das soll sich nun geändert haben.

Ähnliches war im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş, der Hochburg der CHP, zu hören. „Ince hat uns Hoffnung gegeben“, sagte Melda Onur, eine ehemalige Abgeordnet­e. Bei Beginn der Auszählung lag Tayyip Erdogan jedoch weit voran.

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Der Amtsinhabe­r geht wählen: Tayyip Erdogan gab Sonntagmit­tag in einer Schule im Istanbuler Stadtteil Üsküdar seine Stimme ab. Seine Anhänger warteten Stunden darauf.

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