Überschattete Türkei-Wahl
Bei der Präsidenten- und Parlamentswahl in der Türkei gab es viele Berichte über Unregelmäßigkeiten und Gewalt. Anhänger des amtierenden Staatschefs Tayyip Erdogan versuchten, kurdische Wähler einzuschüchtern.
Die türkische Opposition berichtete am Wahltag über Unregelmäßigkeiten. Regierungskreise meldeten einen deutlichen Vorsprung für Tayyip Erdogan.
Weit im Osten, Richtung Kaukasus, läuft es wie geschmiert. Der eine stempelt die Stimmzettel bei Nummer drei, der Nächste faltet sie, ein anderer steckt sie in die Urne. Nummer drei ist Tayyip Erdogan, er hat die dritte Position auf den Stimmzetteln für die Präsidentenwahl in der Türkei. Die war am Sonntag von zahlreichen Unregelmäßigkeiten und Verstößen geprägt. Die Provinzstadt Horasan im Osten des Landes, wo ein Bürgermeister der Erdogan-Partei regiert, war nur ein Beispiel für offensichtlichen Wahlbetrug. Ein Wähler hatte dort mit dem Mobiltelefon die emsigen Helfer im Stimmlokal gefilmt.
Anderswo, im kurdischen Südosten und selbst in Istanbul, gab es Fausthiebe gegen Oppositionspolitiker und deren Wähler sowie Berichte über mit Stimmzetteln präparierte Urnen. Denn für Staatschef Tayyip Erdogan und seine Anhänger ging es um alles: um den Machterhalt, den Sieg im Rennen um das Präsidentenamt und um die absolute Mehrheit im Parlament. Das Innenministerium sprach allerdings von der ruhigsten Wahl in den zurückliegenden Jahren. Mit 87,6 Prozent war die Wahlbeteiligung sogar noch um zwei Punkte höher als 2015.
Gleich nach Schließung der Wahllokale um fünf Uhr nachmittags kommt Muharrem Ince vor das Gebäude der Nationalen Wahlbehörde in Ankara. Der Präsidentenkandidat der größten Oppositionspartei, der sozialdemokratischen CHP, ruft die Bürger im ganzen Land auf, nicht von den Schulen wegzugehen, wo die Wahllokale untergebracht sind. Sie sollten bleiben, bis die Auszählung beendet sei – gleichsam als Warnung an die Mitglieder der Wahlkomitees, gar nicht erst an Betrug zu denken.
Ansage vor der Wahlbehörde
Ince kämpft auch am Wahltag weiter. Er will nicht zögerlich sein so wie sein Parteichef Kemal Kiliçdaroglu am Abend des Verfassungsreferendums im vergangenen Jahr. Damals gewann Staatschef Erdogan nur knapp und mit fragwürdigen Regeländerungen den Entscheid über den Wechsel von der parlamentarischen Demokratie zum Präsidialregime. Mit der Wahl vom Sonntag tritt die neue Verfassung in Kraft.
Tayyip Erdogan lässt sich am frühen Abend zur Huber-Residenz in Istanbul fahren, dem Huber Köşkü direkt am Bosporus, so benannt nach dem Vertreter des deutschen Rüstungsunternehmens Krupp, August Huber, der die Villa vor dem Ersten Weltkrieg erbauen ließ. Jetzt dient sie Erdogan als offizielle Residenz in Istanbul. Es sei noch zu früh, etwas über die Wahl zu sagen, murmelt Erdogan. Später in der Nacht wird er nach Ankara fliegen für die traditionelle Rede auf dem Balkon des Parteigebäudes der AKP, seiner konservativ-islamischen Partei.
Für Erdogan und die AKP ist es entscheidend, eine der Oppositionsparteien unter die Zehnpro- zenthürde zu drücken, die für den Einzug ins türkische Parlament gilt: Bei den vorhergehenden Wahlen im November 2015 kam die prokurdische HDP noch auf 10,76 Prozent. Sie wurde drittstärkste Partei im Parlament und zog mit rund 60 Abgeordneten ein. Fällt sie dieses Mal durch, kann sich Erdogan eines Sieges seiner Partei fast sicher sein. Die AKP würde wieder die absolute Mehrheit haben. Das erklärt die Gewalt und die vielen Manipulierungsversuche im kurdischen Südosten der Türkei.
Stimmlokale verlegt
Dort mussten am Wahltag viele in andere Dörfer und Städte fahren oder gar zu Fuß gehen, um ihre Stimmen abzugeben. Die Wahlbehörde hatte die Verlegung der Wahllokale angeordnet und dies mit der Sicherheitslage in der Region begründet. Mehr als 100.000 Wähler waren davon betroffen. Für viele bedeutete die Verlegung, in Ortschaften abstimmen zu müssen, wo die AKP regiert und sie eingeschüchtert und bedrängt würden, erklärte eine Mitarbeiterin eines HDP-Abgeordneten.
In Diyarbakir, der inoffiziellen Hauptstadt der Kurden in der Türkei, war die Lage am Wahltag weitgehend ruhig. „Die Leute sind wirklich entschlossen. Ich war überrascht“, berichtet ein junger Unternehmer aus der Stadt nach seinem Besuch im Wahllokal. Er meinte damit die Stimmabgaben für die HDP und ihren inhaftierten Präsidentenkandidaten Selahattin Demirtaş. In Diyarbakir und den anderen mehrheitlich kurdischen Städten im Südosten der Türkei waren die Bewohner nach Monaten der Häuserkämpfe, der Ausgangssperren und der Amtsenthebung der gewählten Bürgermeister 2015 und 2016 apathisch geworden. Das soll sich nun geändert haben.
Ähnliches war im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş, der Hochburg der CHP, zu hören. „Ince hat uns Hoffnung gegeben“, sagte Melda Onur, eine ehemalige Abgeordnete. Bei Beginn der Auszählung lag Tayyip Erdogan jedoch weit voran.