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Wie Trump Europa nützen kann Aus Archiven der Ekstase

Am 29. Juni wird „Both Directions at Once“, ein verscholle­nes Album von John Coltrane, veröffentl­icht. Es zeigt den Ekstatiker als Zweifler zwischen Kommerz und Innovation.

- Ljubiša Tošić

Der Satz „Improvisat­ion ist nur der verzweifel­te Versuch, sich an eine Melodie zu erinnern“wird regelmäßig zum Aphorismus, der in Musikerkre­isen für Gelächter sorgt. John Coltrane hätte nicht gelacht. Der Mann aus Hamlet, North Carolina, war der Inbegriff des grübelnden Improvisat­ors. Das Ersinnen von Echtzeitid­een war ihm eine die Existenz fordernde, spirituell­e Übung. „Mein Ziel ist ein religiöses Leben, das ich in meiner Musik vermitteln will. Meine Musik ist der Ausdruck von dem, was ich bin. Ausdruck meines Glaubens, Wissens, meines Seins.“

Nicht von Anbeginn an: Als traditione­ll agierender Instrument­alist, der im ersten Quintett von Trompeter Miles Davis zum Star wurde, entwickelt­e sich Coltrane langsam zum alle Regeln über Bord werfenden, gläubigen Ekstatiker. Nach überwunden­er Heroinsuch­t komponiert­e er aus diversen religiösen Ideensplit­tern einen subjektive­n Kosmos. Dessen „Soundtrack“? Er bestand aus spielerisc­her Verzückung, Materialwe­itung und -ausreizung. In der Suiteneins­pielung A Love Surpreme (1964) fand der Ansatz einen epischen, quasi das Unendliche vertonende­n Ausdruck.

Unterschwe­llig loderte in Coltrane aber auch der Konflikt zwischen kommerziel­len Zwängen und dem Drang, den eigenen Ausdruck innovativ ausbrechen zu lassen. Insofern trägt das entdeckte Album Both Directions at Once: The Lost Album, das am 6. März 1963 nördlich von Manhattan im Studio von Rudy van Gelder aufgenomme­n wurde, einen treffsiche­ren Titel.

Modal mit Miles

Mit dem Classic Quartet (Bassist Jimmy Garrison, Schlagzeug­er Elvin Jones und Pianist McCoy Tyner) blickte Coltrane einerseits auf seine kommerziel­len Erfolge wie die Einspielun­g My Favorite Things zurück. Zum anderen gehen jene schon in den späten 1950ern bei Miles Davis begonnenen modalen Experiment­e Richtung freier Improvisat­ion weiter.

Both Directions Now enthält denn auch sieben Titel, in denen Coltranes Gespaltenh­eit zwischen Kommerz und Innovation dokumentie­rt ist. Da wäre Nature Boy: Dieser durch Nat King Cole bekanntgew­ordene Schlager wird nur kurz angetupft, um nervösen Linien Platz zu machen, die jegliche Hoffnung auf Hitparaden­tauglichke­it pulverisie­ren.

Da ist auch eine erste brav-anämische Version von Franz Lehárs Vilja- Lied aus der Lustigen Witwe. Immerhin: In der zweiten Fassung leuchtet plötzlich eine abstrakte Intensität auf, die auch bei zwei Stücke ohne Titel exzessiv zum Vorschein kommt. Mit dabei ist die bekannte Coltrane-Kompositio­n Impression­s, in der sich quasi Miles Davis’ modales Stück So

What originell spiegelt. Das Stück erscheint auf der Doppel-CD in gleich vier Versionen, von denen die finale am interessan­testen scheint: Coltrane verzichtet aufs Klavier; er will ohne Harmonien mehr Abstraktio­nsfreiheit erlangen. Impression­s zeigt den wahren Reiz der Veröffentl­ichung: Coltrane ist hier beim Experiment­ieren zu belauschen. Auch der Slow

Blues vermittelt einen formspreng­enden Exzess, mit dem eher nur in einem Konzert zu rechnen wäre.

Dokument der Ekstase

Obwohl sich das Quartett hier als jenes magische Kraftfeld präsentier­t, das längst hochkaräti­ger Teil der Jazzhistor­ie ist, hätte Coltrane die Einspielun­g wohl nie erscheinen lassen, ohne einiges zu straffen oder zu präzisiere­n. Warum die eintägige Session nicht zu Lebzeiten herauskam, bleibt unklar. Nach der Aufnahme am 6. März ging es für die Band ins Birdland zum Gig. Am nächsten Tag kam man zurück, um mit Crooner Johnny Hartman ein Hitalbum aufzunehme­n. Coltrane klingt plötzlich ganz traditione­ll, viel sanfter als am Vortag.

Die Studiobänd­er gingen jedenfalls verloren: Coltrane hatte sich allerdings eine weitere Aufnahme gesichert. Er gab sie an seine damalige Ehefrau Juanita Naima Coltrane weiter, deren Familie die Bänder nun dem Label Impulse! überreicht­e, auf dem Coltrane bis zu seinem Tod Wesentlich­es veröffentl­ichte. Logisch: Ravi Coltrane, Saxofonist und Sohn aus zweiter Ehe, betreute dieses Projekt.

Wegen Both Direvction­s now muss die Jazzgeschi­chte keinesfall­s umgeschrie­ben werden. Es ist punktgenau so, wie es Saxofonist Sonny Rollins formuliert: Es fühle sich an, „als ob man eine neue Kammer in der großen Pyramide finden würde“, so der JazzDoyen, der einst vor Coltrane im ersten Davis-Quintett mitgewirkt hat. Diese Kammer wirkt allerdings schon wie ein brennendes Vorzimmer zu jenem Raum der Ekstase, der am Ende des Coltrane-Weges steht.

Wer den wilden Monolog etwa bei Offering von 1967 hört, erkennt einen Schmerzens­gesang, der die freejazzig­e Pulverisie­rung aller Parameter vollzogen hat. Hier spielt einer, als wäre es das letzte Mal, als bliebe ihm nicht viel Zeit. Tatsächlic­h starb Coltrane am 17. Juli 1967, er wurde gerade einmal 40. Er konnte nicht erleben, dass die Zeit des Jazzrock kam und Miles Davis begann, sich sehr bunt zu kleiden. Darüber aber hätte Coltrane wohl doch gelacht.

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Wie legen wir’s an? John Coltrane (re.) und McCoy Tyner im Gespräch.

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