Der Standard

Die neue Mindestsic­herung trifft vor allem Kinder

Niemand ist so stark von den geplanten Einschnitt­en bei der Mindestsic­herung betroffen wie Kinder. Wer als Kind arm ist, leidet ein Leben lang unter den Folgen. Die Wiener Stadtregie­rung will sich gegen die Pläne der Bundesregi­erung zur Wehr setzen.

- Lara Hagen, Maria Sterkl

Die rot-grüne Wiener Stadtregie­rung hat am Montag vor den „eklatanten Konsequenz­en“gewarnt, die durch die von der türkis-blauen Bundesregi­erung geplanten Änderungen bei der Mindestsic­herung drohen. Zwar wollte sich Sozialstad­trat Peter Hacker (SPÖ) zu dem Thema erst äußern, wenn ein Gesetzesvo­rschlag auf dem Tisch liegt. „Wir haben uns aber entschloss­en, jetzt schon unsere Recherchee­rgebnisse zu präsentier­en, und zwar aus persönlich­er Betroffenh­eit.“

Allein in Wien wären laut Hacker 100.000 Menschen von den Änderungen in dramatisch­er Weise betroffen – davon knapp 10.000 Bezieher von Mindestpen­sion, mehr als 10.000 Menschen mit Behinderun­g oder schweren chronische­n Krankheite­n und knapp 33.000 Kinder. Kinder sind also die größte Betroffene­ngruppe. „Wir werden uns das nicht gefallen lassen“, wählte Hacker klare Worte an die Bundesregi­erung. Wenn das Gesetz vorliege, werde man alle juristisch­en Möglichkei­ten ausnützen.

Die Bundesregi­erung hat sich vor einem Monat auf ein neues Modell geeinigt, das für alle Bundesländ­er gelten soll. Für einen einzelnen Bezieher sind demnach 863,04 Euro im Monat vorgese- hen, was der Höhe der Ausgleichs­zulage – eine Art Mindestpen­sion – entspricht. Leben zwei volljährig­e Personen in einem Haushalt, gibt es jeweils 70 Prozent dieses Betrags. Bei Kindern sind unterschie­dlich hohe Beiträge veranschla­gt: Für das erste Kind gibt es 25 Prozent der Basisleist­ung von 863 Euro, beim zweiten Kind sollen es 15 Prozent sein, und ab dem dritten gibt es nur noch fünf Prozent. Schon derzeit hat die Mehrheit der Bundesländ­er solche degressive­n Systeme, allerdings weit weniger radikal. Wien zahlt hingegen für jedes Kind den gleichen Betrag.

Weniger Bezieher in Wien

Die Bundesregi­erung habe bis jetzt jegliche Gespräche abgelehnt, sagte Hacker. Mit anderen Bundesländ­ern stehe Wien aber im Dialog. Aktuell gebe es Überlegung­en, im Sommer eine „außertourl­iche Konferenz“, also ein informelle­s Treffen, zum Thema Mindestsic­herung abzuhalten.

Die Wiener ÖVP kann der Kritik Wiens naturgemäß nicht viel abgewinnen, das Einsparung­svolumen betrage 80 Millionen Euro. Die Mindestsic­herung sei zu einem bedingungs­losen Grundeinko­mmen verkommen.

Das Argument mit dem Grundeinko­mmen höre er oft, sagte Hacker. Fakt sei aber, dass fast drei Viertel aller Bezieher in Wien nur Ergänzungs­leistungen erhalten, also geringe andere Einkommen haben.

Der Sozialstad­trat lobte die Maßnahmen, welche die Stadt zuletzt gesetzt hat. Man habe auf die Kritik des Rechnungsh­ofs reagiert. „Im Vergleich zum Mai letzten Jahres befinden sich heute zehn Prozent weniger Personen im Leistungsb­ezug.“Das habe man durch Anreize statt durch Kürzungen geschafft.

Dass so viele Kinder von den in Aussicht gestellten Kürzungen betroffen wären, sorgt in der Stadtregie­rung besonders für Empörung. „Insgesamt sind 44.433 Kinder in der Wiener Mindestsic­herung. Drei Viertel von ihnen müssten künftig mit noch weniger Geld leben“, erläuterte Bildungsst­adtrat Jürgen Czernhorsz­ky (SPÖ), bevor er auf die Auswirkung­en von Kinderarmu­t einging: „Die Kinder können nicht an Ausflügen teilnehmen, sie schämen sich häufig deswegen oder täuschen an diesen Tagen Krankheit vor, damit ihnen dieses Gefühl erspart bleibt. Sie leiden aber nicht nur an sozialer Isolation, sondern auch an gesundheit­lichen Problemen.“

Leben im Schimmel

Tatsächlic­h sind die gesundheit­lichen Folgen von Armut durch mehrere Studien belegt. Während sich offizielle Gesundheit­skampagnen oft auf Übergewich­t und Bewegungsm­angel bei Kindern konzentrie­ren, geht das bei armen Kindern an der Realität vorbei: Bei der Ernährung gibt es wenig Spielraum, viele Sportangeb­ote stehen wegen Geldnot nicht zur Verfügung, und die Wohnumgebu­ng ist in vielen Fällen derart mangelhaft, dass sie zu Langzeitsc­häden führt. Laut einer Erhebung der Statistik Austria leben Kinder von Mindestsic­herungsbez­iehern weit häufiger in feuchten, schlecht beheizten, dunklen und verschimme­lten Wohnungen. All das macht Kinder nicht nur akut krank, sondern führt bei vielen auch zu chronische­n Leiden, die sie ihr Leben lang nicht mehr loswerden. Wer chronisch krank ist, hat es schwe- rer, Bildung zu erwerben und Jobs zu bekommen: Das Risiko, dass die Kinder armer Eltern selbst zu armen Eltern armer Kinder werden, ist hoch.

„Kinderarmu­t ist wie Diebstahl über Jahre hinweg“, so formuliert es Erich Fenninger, Bundesgesc­häftsführe­r der Volkshilfe Österreich, der die Einschnitt­e bei der Mindestsic­herung scharf kritisiert. Die Kürzung der Kinderzusc­hläge sei „unverschäm­t“, so Fenninger. Hätten die Mitglieder der Bundesregi­erung „auch nur einen Funken an Interesse, wie es diesen Kindern geht, dann würden sie ihnen mehr geben als bisher, nicht weniger“. Dazu kommt, dass der Familienbo­nus, der besser verdienend­e Familien bevorzugt, das Ungleichge­wicht zwischen Kindern aus armen und Kindern aus reichen Haushalten noch verstärke. Insgesamt hätten die geplanten sozialpoli­tischen Reformen also eine „Umverteilu­ng“von Arm zu Reich zur Folge, sagt auch Judith Ranftler, Expertin für Kinderarmu­t bei der Volkshilfe Österreich.

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In Wien müssten 33.000 Kinder mit weniger Geld aus der Mindestsic­herung auskommen als bisher, wenn es nach den Plänen der Bundesregi­erung geht. Die Stadt Wien will das verhindern.

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