Grüßen lernen, Erfahrung sammeln
Von Platznöten, seltsamen Noten und der Sorge, keinen Job zu finden – hat sich eine Handelsschule in Steyr und eine Wiener AHS angeschaut.
FSCHULBESUCH: rau Blattner hat Erdbeeren und Muffins mitgebracht. Doch jetzt sitzen ihre Kolleginnen und der Kollege auf den harten Sesseln hinter den Schulbänken und haben sich so in Rage geredet, dass niemand bei den dargebotenen Leckereien zulangt.
Gerlinde Blattner hatte neugierig gemacht. In einem Teil der über die vergangenen drei Monate laufenden Standard- Serie „Aus dem Klassenzimmer“berichtete die Religions-, Geschichte-, und Ethiklehrerin vom Alltag an „ihrer“Handelsakademie und Handelsschule in Steyr und befand: „Der Unterricht an der HAS ist nichts für Feiglinge!“Das unterschied sich dann doch von so manchen Lehrerrückmeldungen, die uns aus diversen Klassenzimmern österreichweit erreicht hatten – nicht immer, aber doch häufig im Tonfall der Besorgnis.
Im Gespräch mit der Kollegenschar der Schule, wo der überwiegende Anteil der Schüler einen sogenannten Migrationshintergrund hat, wird schnell klar, worauf hier in Steyr besonderer Wert gelegt wird: PBSK. Es geht um „Persönlichkeitsbildung und Sozialkompetenz“, seit einigen Jahren ein eigenes Schulfach an heimischen Handelsschulen und Handelsakademien. Hier wird gelernt, pünktlich zu sein, Ordnung zu halten, mit anderen so zu sprechen, dass sich daraus – auch wenn es Probleme gibt – ein befriedigendes Gespräch ergibt.
Lieb, aber anstrengend
Von Steyr nach Wien: Auf Soziales wird auch im Gymnasium in der Kandlgasse in Wien-Neubau gesetzt. Alle Schüler der dritten Klassen müssen sich an einem Sozialprojekt beteiligen, zwei Stunden pro Woche. Heuer halfen die 13-Jährigen in Kindergärten und Horten aus, sammelten Essen für die Wiener Tafel von den Händlern am Naschmarkt ein. Gerade wird in der Klasse das Erlebte besprochen. „Die Kinder waren lieb“, lautet der Tenor der Schülerinnen und Schüler, „aber auch anstrengend“. Ob das ein künftiges Berufsfeld sein könnte? Die Antwort fällt eindeutig aus: Mit Kindern arbeiten? Nein, danke!
In Steyr wird derweil über die Lehrpläne geklagt. „Die Arbeit in der Handelsschule hat weniger mit Stoffvermittlung zu tun“, sagt Helga Steinwendtner geradeheraus. Da würden die Lehrpläne „mit den Dingen, die unsere Schüler brauchen“nicht immer übereinstimmen, erzählt die erfahrene Lehrkraft für die Fächer Geschichte, Turnen – und PSBK. Wer nämlich an der Handelsschule lande, habe oft negative Schulerfahrungen gemacht, sei meist orientierungslos, was die eigene Zukunft anlangt, „oder sie haben keine Lehrstelle bekommen“. Insofern brauche es viel Empathie, viel Persönlichkeitsaufbautraining und eine gehörige Portion Engagement über die eigentliche Lehrverpflichtung hinaus, darin sind sich alle fünf anwesenden Pädagogen einig.
Eine Sicht, die auch in Wien geteilt wird. Im Lehrerzimmer herrscht gerade hektisches Treiben. Ein Lehrer, auf dem Sprung zum Unterricht, erzählt aus seiner Klasse: Er habe Kinder mit elf verschiedenen Muttersprachen, dann wären da noch fünf bis sieben verschiedene Religionen, zwei autistische Kinder – und jene, die streng genommen keine AHSReife hätten. Die Kandlgasse läuft nämlich als Schulversuch „Gesamtschule“– 20 bis 25 Prozent der Kinder müssten eigentlich eine NMS besuchen. Merkt man das? „Mein schlechtester Schüler hat AHS-Reife“, sagt der Lehrer trocken. Direktor Georg Waschulin hat zuvor schon über die geringe Aussagekraft der Volks- schulnoten geklagt. „Den Traum von der objektiven Gültigkeit gibt es nicht“, lautet sein Schluss nach elf Jahren als Schulleiter. Der Druck auf die Volksschullehrerinnen sei groß, und man wolle ja niemandem seine Zukunft verbauen. Ähnlich sei es auch später, wenn Kinder nach der vierten Klasse NMS an die AHS wechseln: „Kommt ein Kind von der NMS, lasse ich mir das Zeugnis der dritten Klasse zeigen. Und dann staune ich über das Bildungswunder.“
In der Handelsschule in Steyr hat man andere Sorgen. „Wenn mir zum Beispiel einer erzählt, er wird zu Hause geschlagen, kann ich schwer sagen: ‚Schönes Wochenende noch!‘“, zeichnet Frau Steinwendtner das Bild einer Situation nach, die zwar nicht täglich, aber doch immer wieder vorkommt. Gleichzeitig sind sich die Steyrer HAS-Lehrer bewusst: „Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht übernehmen.“Über die örtliche Sozialplattform hat man daher vor einiger Zeit Kontakt mit dem Jugendamt aufgenommen.
In die Schule in der Wiener Kandlgasse gehen die „Bobo“-Kinder aus dem siebenten und achten Bezirk genauso wie die des „arbeitslosen Hilfsarbeiters vom Gürtel“, wie es der Direktor ausdrückt. Die Probleme seien nicht anders als andernorts. „In der Oberstufe haben wir Schüler, die spielsüchtig sind. In der Schule sind die dann komplett erschöpft“, erzählt Direktor Georg Waschulin. Was sich mit den Jahren geändert habe? „Dass Zweitklassler Pornos am Handy schauen zum Beispiel.“
Beim Rundgang durch den Altbau wird schnell klar, die Schule platzt aus allen Nähten. Da nützen auch die hängenden Gärten an der Hausmauer nichts, die wenigstens etwas Freundlichkeit vermitteln. „Wenn man sagt, dass das Bildungssystem der Realität nachhinkt, dann ist das bei der Architektur noch krasser“, findet der Direktor, der davon träumt, das Dach auszubauen (zu teuer), den Turnsaal aufzustocken (geht statisch nicht) oder wenigstens Container aufzustellen (kein Platz). Die Realität sieht so aus: Damit die Kinder der Nachmittagsbetreuung essen können, wird mangels Speisesaals ein Klassenraum umfunktioniert.
Auch in Frau Steinwendtners Traumschule sieht der Unterrichtsalltag anders aus. Ganztägig, beginnend mit Gleitzeit und gemeinsamem Frühstück. Auch die Schulglocke, die das Arbeiten mit den Schülern in willkürliche Teile stückelt, wäre längst Geschichte. Es gäbe Sozialarbeiter und einen Psychotherapeuten vor Ort.
Im Herbst will man diesem Ideal ein Stück näher rücken: Gemeinsam mit den Kleinbetrieben der Umgebung sollen die passenden Kandidaten für die rund 100 offenen Lehrstellen gefunden werden. Schnuppertage sollen helfen, dass die Schülerinnen und Schüler ein Gefühl dafür bekommen, was von ihnen künftig verlangt wird.