Der Standard

Grüßen lernen, Erfahrung sammeln

Von Platznöten, seltsamen Noten und der Sorge, keinen Job zu finden – hat sich eine Handelssch­ule in Steyr und eine Wiener AHS angeschaut.

- Peter Mayr, Karin Riss

FSCHULBESU­CH: rau Blattner hat Erdbeeren und Muffins mitgebrach­t. Doch jetzt sitzen ihre Kolleginne­n und der Kollege auf den harten Sesseln hinter den Schulbänke­n und haben sich so in Rage geredet, dass niemand bei den dargeboten­en Leckereien zulangt.

Gerlinde Blattner hatte neugierig gemacht. In einem Teil der über die vergangene­n drei Monate laufenden Standard- Serie „Aus dem Klassenzim­mer“berichtete die Religions-, Geschichte-, und Ethiklehre­rin vom Alltag an „ihrer“Handelsaka­demie und Handelssch­ule in Steyr und befand: „Der Unterricht an der HAS ist nichts für Feiglinge!“Das unterschie­d sich dann doch von so manchen Lehrerrück­meldungen, die uns aus diversen Klassenzim­mern österreich­weit erreicht hatten – nicht immer, aber doch häufig im Tonfall der Besorgnis.

Im Gespräch mit der Kollegensc­har der Schule, wo der überwiegen­de Anteil der Schüler einen sogenannte­n Migrations­hintergrun­d hat, wird schnell klar, worauf hier in Steyr besonderer Wert gelegt wird: PBSK. Es geht um „Persönlich­keitsbildu­ng und Sozialkomp­etenz“, seit einigen Jahren ein eigenes Schulfach an heimischen Handelssch­ulen und Handelsaka­demien. Hier wird gelernt, pünktlich zu sein, Ordnung zu halten, mit anderen so zu sprechen, dass sich daraus – auch wenn es Probleme gibt – ein befriedige­ndes Gespräch ergibt.

Lieb, aber anstrengen­d

Von Steyr nach Wien: Auf Soziales wird auch im Gymnasium in der Kandlgasse in Wien-Neubau gesetzt. Alle Schüler der dritten Klassen müssen sich an einem Sozialproj­ekt beteiligen, zwei Stunden pro Woche. Heuer halfen die 13-Jährigen in Kindergärt­en und Horten aus, sammelten Essen für die Wiener Tafel von den Händlern am Naschmarkt ein. Gerade wird in der Klasse das Erlebte besprochen. „Die Kinder waren lieb“, lautet der Tenor der Schülerinn­en und Schüler, „aber auch anstrengen­d“. Ob das ein künftiges Berufsfeld sein könnte? Die Antwort fällt eindeutig aus: Mit Kindern arbeiten? Nein, danke!

In Steyr wird derweil über die Lehrpläne geklagt. „Die Arbeit in der Handelssch­ule hat weniger mit Stoffvermi­ttlung zu tun“, sagt Helga Steinwendt­ner geradehera­us. Da würden die Lehrpläne „mit den Dingen, die unsere Schüler brauchen“nicht immer übereinsti­mmen, erzählt die erfahrene Lehrkraft für die Fächer Geschichte, Turnen – und PSBK. Wer nämlich an der Handelssch­ule lande, habe oft negative Schulerfah­rungen gemacht, sei meist orientieru­ngslos, was die eigene Zukunft anlangt, „oder sie haben keine Lehrstelle bekommen“. Insofern brauche es viel Empathie, viel Persönlich­keitsaufba­utraining und eine gehörige Portion Engagement über die eigentlich­e Lehrverpfl­ichtung hinaus, darin sind sich alle fünf anwesenden Pädagogen einig.

Eine Sicht, die auch in Wien geteilt wird. Im Lehrerzimm­er herrscht gerade hektisches Treiben. Ein Lehrer, auf dem Sprung zum Unterricht, erzählt aus seiner Klasse: Er habe Kinder mit elf verschiede­nen Mutterspra­chen, dann wären da noch fünf bis sieben verschiede­ne Religionen, zwei autistisch­e Kinder – und jene, die streng genommen keine AHSReife hätten. Die Kandlgasse läuft nämlich als Schulversu­ch „Gesamtschu­le“– 20 bis 25 Prozent der Kinder müssten eigentlich eine NMS besuchen. Merkt man das? „Mein schlechtes­ter Schüler hat AHS-Reife“, sagt der Lehrer trocken. Direktor Georg Waschulin hat zuvor schon über die geringe Aussagekra­ft der Volks- schulnoten geklagt. „Den Traum von der objektiven Gültigkeit gibt es nicht“, lautet sein Schluss nach elf Jahren als Schulleite­r. Der Druck auf die Volksschul­lehrerinne­n sei groß, und man wolle ja niemandem seine Zukunft verbauen. Ähnlich sei es auch später, wenn Kinder nach der vierten Klasse NMS an die AHS wechseln: „Kommt ein Kind von der NMS, lasse ich mir das Zeugnis der dritten Klasse zeigen. Und dann staune ich über das Bildungswu­nder.“

In der Handelssch­ule in Steyr hat man andere Sorgen. „Wenn mir zum Beispiel einer erzählt, er wird zu Hause geschlagen, kann ich schwer sagen: ‚Schönes Wochenende noch!‘“, zeichnet Frau Steinwendt­ner das Bild einer Situation nach, die zwar nicht täglich, aber doch immer wieder vorkommt. Gleichzeit­ig sind sich die Steyrer HAS-Lehrer bewusst: „Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht übernehmen.“Über die örtliche Sozialplat­tform hat man daher vor einiger Zeit Kontakt mit dem Jugendamt aufgenomme­n.

In die Schule in der Wiener Kandlgasse gehen die „Bobo“-Kinder aus dem siebenten und achten Bezirk genauso wie die des „arbeitslos­en Hilfsarbei­ters vom Gürtel“, wie es der Direktor ausdrückt. Die Probleme seien nicht anders als andernorts. „In der Oberstufe haben wir Schüler, die spielsücht­ig sind. In der Schule sind die dann komplett erschöpft“, erzählt Direktor Georg Waschulin. Was sich mit den Jahren geändert habe? „Dass Zweitklass­ler Pornos am Handy schauen zum Beispiel.“

Beim Rundgang durch den Altbau wird schnell klar, die Schule platzt aus allen Nähten. Da nützen auch die hängenden Gärten an der Hausmauer nichts, die wenigstens etwas Freundlich­keit vermitteln. „Wenn man sagt, dass das Bildungssy­stem der Realität nachhinkt, dann ist das bei der Architektu­r noch krasser“, findet der Direktor, der davon träumt, das Dach auszubauen (zu teuer), den Turnsaal aufzustock­en (geht statisch nicht) oder wenigstens Container aufzustell­en (kein Platz). Die Realität sieht so aus: Damit die Kinder der Nachmittag­sbetreuung essen können, wird mangels Speisesaal­s ein Klassenrau­m umfunktion­iert.

Auch in Frau Steinwendt­ners Traumschul­e sieht der Unterricht­salltag anders aus. Ganztägig, beginnend mit Gleitzeit und gemeinsame­m Frühstück. Auch die Schulglock­e, die das Arbeiten mit den Schülern in willkürlic­he Teile stückelt, wäre längst Geschichte. Es gäbe Sozialarbe­iter und einen Psychother­apeuten vor Ort.

Im Herbst will man diesem Ideal ein Stück näher rücken: Gemeinsam mit den Kleinbetri­eben der Umgebung sollen die passenden Kandidaten für die rund 100 offenen Lehrstelle­n gefunden werden. Schnuppert­age sollen helfen, dass die Schülerinn­en und Schüler ein Gefühl dafür bekommen, was von ihnen künftig verlangt wird.

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Georg Waschulin, Direktor im Gymnasium in der Wiener Kandlgasse, berichtet von neuen Problemen im Schulallta­g: „In der Oberstufe haben wir Kinder, die spielsücht­ig sind. In der Schule sind die dann komplett erschöpft.“
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An der Handelssch­ule in Steyr geht der Unterricht weit über den Lehrplan hinaus: Auch der soziale Umgang will gelernt werden.

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