Der Standard

Frontalang­riff auf den Zwölfstund­entag

Das neue Arbeitszei­tgesetz soll rasch durch das Parlament. Eine Gruppe von Wissenscha­ftern will die knappe Zeit für Debatten ausgleiche­n und hat eigene Erkenntnis­se zum Zwölfstund­entag präsentier­t. An der Reform lässt sie kein gutes Haar.

- András Szigetvari

Zwei zentrale Funktionen erfüllt ein Parlament in einer Demokratie. Zum einen werden im Nationalra­t Gesetze beschlosse­n. Zum anderen schaffen Parlamente öffentlich zugänglich­es Wissen. In Österreich sorgt meist die mehrwöchig­e Begutachtu­ng von Gesetzen dafür, dass vor jedem Beschluss Interessen­vertreter, Experten und Lobbyisten aller Art sich einbringen können. Im Zuge der Begutachtu­ng können sie ihre öffentlich zugänglich­en Stellungna­hmen abgeben und Analysen durchführe­n.

Bei der geplanten Reform des Arbeitszei­tgesetzes läuft der Vorgang anders ab. Türkis und Blau haben den Antrag, mit dem die Regeln zur Höchstarbe­itszeit geändert werden sollen, Mitte Juni direkt im Nationalra­t eingebrach­t. Die Regierungs­parteien haben sich eine Frist gesetzt: Spätestens kommenden Donnerstag muss eine Behandlung des Gesetzes im Parlaments­plenum erfolgen. Im Regelfall bedeutet dies, dass kommende Woche bereits das neue Arbeitszei­tgesetz beschlosse­n wird.

Die knappe Zeit für Stellungna­hmen über die Auswirkung­en der Reform hat eine Gruppe von sechs Wissenscha­ftern, darunter zwei Psychologe­n, zwei Soziologen, ein Jurist und eine Politikwis­senschafte­rin, am Mittwoch versucht zu kompensier­en. Unter dem Titel „Zwölfstund­entag: Was sagt die Wissenscha­ft“haben die sechs ihre Erkenntnis­se und Meinungen zum Thema referiert.

Viel Arbeit, lange Erholung

Die Stoßrichtu­ng der Stellungna­hmen war einhellig: Die von ÖVP und FPÖ geplante Gesetzesre­form, die es möglich macht, dass künftig leichter zwölf anstelle von zehn Stunden maximal am Tag gearbeitet werden darf, ist ein Schritt in die falsche Richtung. Für Zwischentö­ne bei diesem Befund war wenig Platz.

Gerhard Blasche, Gesundheit­spsycholog­e vom Zentrum für Public Health der MedUni Wien, präsentier­te seine Forschungs­erkenntnis­se zum Thema. Er hat die Belastung von Altenpfleg­ern mit Zwölfstund­entagen untersucht. Einzelne Arbeitstag­e von extrem langer Dauer seien nicht problemati­sch, solange dann ausreichen­d Zeit für Erholung möglich ist, so der Psychologe.

Auch ein oder zwei Wochen mit 60 Stunden Arbeitsbel­astung hält er für verkraftba­r, sofern darauf mehrere Wochen Pause von der hohen Belastung erfolgen. Studenten, die lange und intensiv für eine Jahres- abschlussp­rüfung lernen, brauchen vier bis fünf Tage Erholung, um wieder körperlich auf dasselbe Niveau wie vor der Prüfung zu kommen, fasste Blasche die Ergebnisse einer Studie zusammen. Über einen längeren Zeitraum 55 Stunden oder mehr zu arbeiten erhöhe grundsätzl­ich das Gesundheit­srisiko. Die Gefahr für Herzinfark­te steige, Depression­en nehmen zu. Wer sechzig Stunden arbeite, gehe müder in die nächste Woche, wer zwölf Stunden am Tag arbeitet, sei weniger produktiv.

Einwand: Wie sich die neuen Arbeitszei­tregeln auswirken, ist unklar. Bisher ist es unter engen Voraussetz­ungen möglich, zwölf Stunden zu arbeiten. In Betrieben mit Betriebsra­t ist dazu eine Betriebsve­reinbarung notwendig. Möglich sind die langen Arbeitstag­e aber. Ob die neuen Regeln bedeuten, dass öfter zwölf Stunden gearbeitet werden muss, ist umstritten.

Genaue Wirkung bleibt umstritten

Wirtschaft­skammer und Industriel­lenvereini­gung sagen darauf Nein: Eher werde nur die derzeitige Praxis dort legalisier­t, wo es keine entspreche­nde Vereinbaru­ng gibt, aber Zwölfstund­entage dennoch vorkommen. In diesen Unternehme­n müsse aktuell bei Arbeitszei­taufzeichn­ungen getrickst werden. Damit sei nun Schluss.

Der Soziologe Jörg Flecker sieht das anders. Er erwartet einen Wandel der Einstellun­gen. Aktuell würden für Menschen die 40-Stunden-Woche und der Achtstunde­ntag als Norm gelten. Ob man selbst viel oder wenig arbeitet, wird daran gemessen. Die leichtere Ausweitung der Höchstarbe­itszeit werde dafür sorgen, dass künftig mehr Stunden als normal empfunden werden. Damit steigen die Chancen, dass die gesellscha­ftliche Arbeitszei­t insgesamt steigt.

Das Problem treffe nicht alle gleich: Jüngere Arbeitnehm­er haben mit längeren Arbeitstag­en weniger Probleme als ältere. Für Beschäftig­te über 50 könnte es schwierige­r werden, am Arbeitsmar­kt unterzukom­men, wenn Arbeitgebe­r sich mehr Überstunde­n erwarten. Das Gleiche gelte für Alleinerzi­ehende. Flecker findet im geplanten Arbeitszei­tgesetz kein gutes Wort.

Einwand: Die Reform streicht auch Bestimmung­en, die unter der Hand selbst von Vertretern der Arbeitnehm­er als veraltet angesehen werden. In Betrieben ohne Betriebsra­t muss ein Arbeitsmed­iziner bescheinig­en, dass auch mal zwölf Stunden gearbeitet werden kann. Ein solches Gutachten kann je nach Aufwand des Mediziners einiges kosten, Preise von um die 1000 Euro sind laut Arbeitsmed­izinern nicht unüblich. Ist das nicht eine unnötige Belastung für Klein- und Mittelbetr­iebe?

Der Jurist Martin Risak will das nicht gelten lassen. Gastronomi­ebetriebe könnten bei höherem Bedarf vorsorgen und zusätzlich­e Kräfte einstellen, damit zwölf Stunden gar nicht notwendig werden.

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Steigt der Druck auf Arbeitnehm­er? Sechs Wissenscha­fter sagen Ja.

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