Meinungsfreiheit und Dummheit auf Twitter
Keine Kritik an der Politik: Selbst der Kanzler äußert sich „skeptisch“über die Social-Media-Richtlinien des ORF. Die öffentlich-rechtliche ARD hat keine so rigiden Regeln, die private „New York Times“sehr wohl.
Mehr als nur überrascht“zeigte sich Kanzler Sebastian Kurz am Mittwoch nach dem Ministerrat über die geplanten Social-Media-Richtlinien des ORF für dessen Mitarbeiter. Mehr noch, der Regierungs- und ÖVP-Chef äußerte sich „sehr skeptisch“zum Entwurf, den DER STANDARD veröffentlicht hatte. Denn: „Ich halte die Meinungsfreiheit für ein hohes Gut.“
Mit der Meinungsfreiheit, Artikel zehn der Europäischen Menschenrechtskonvention („Jedermann hat Anspruch auf freie Meinungsäußerung ...“) im Wortlaut, kommentierte etwa auch ORF-Anchor und Twitter-Größe Armin Wolf den Entwurf.
Verzicht auf Kritik
Die geplanten „Social-MediaLeitlinien“verlangen wörtlich den Verzicht auf „öffentliche Äußerungen und Kommentare in sozialen Medien, die als Zustimmung, Ablehnung oder Wertung von Äußerungen, Sympathie, Antipathie, Kritik und ‚Polemik‘ gegenüber politischen Institutionen, deren Vertreter/innen oder Mitgliedern zu interpretieren sind“. Ausdrücklich auch „im privaten Umfeld“auf Social Media.
Der Entwurf ging am Dienstag irrtümlich an einige Dutzend Radiomitarbeiter. Nach den Berichten darüber und massiven Protesten in Foren und auf Social Media mailte ORF-Chef Alexander Wrabetz seinen Führungskräften: „Zeitungsmeldungen, dass durch diesen Entwurf der kritische, unabhängige öffentlich- rechtliche Journalismus im ORF eingeschränkt werden soll, sind absurd und entbehren jeder Grundlage.“In den Berichten und Diskussionen freilich ging es vielmehr um das Recht auf freie Meinungsäußerung – so interpretierte auch Kurz den Entwurf.
Die Überraschung des Kanzlers über das Regelwerk freilich ist überraschend: Thomas Zach, von der ÖVP ausgesuchter Stiftungsrat und Sprecher der ÖVP-nahen Stiftungsräte, verlangt seit vielen Jahren beharrlich verbindliche Social-Media-Regeln für ORFMitarbeiter. ORF-General Alexander Wrabetz schob Zachs Forderung ebenso lange vor sich her – bis die ÖVP nach dem Regierungswechsel 2017 die weitaus stärkste Fraktion im ORFStiftungsrat stellte.
„Wir brauchen Regeln für ORF-Redakteure, die sich online völlig abseits von Objektivität bewegen“, sagte der damalige ÖVP-Klubchef und -Mediensprecher Karlheinz Kopf schon 2013 im Interview mit dem STANDARD: „Was sie im ORF nicht dürften, leben sie dort in einer unglaublichen Extensität aus.“
FPÖ-Stiftungsrat Norbert Steger befeuerte die Debatte seit dem Regierungswechsel. Er forderte dienstrechtlich verbindliche Social-Media-Regeln für ORF-Mit- arbeiter, mit Konsequenzen bis zur Entlassung bei Wiederholung. Im Mai wählte die türkis-blaue Mehrheit Steger zum Chef des obersten ORF-Gremiums.
Wrabetz geht regelmäßig zur Abstimmung mit Steger und Zach mittagessen. Er muss bei der Formulierung der über Jahre hinausgeschobenen Regeln an ihre Worte gedacht haben. Sie und eine türkis-blaue Mehrheit werden entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen Wrabetz bis Ende 2021 in der ORF-Führung bleibt – auch nach einer Gesetzesnovelle, die einen ORF-Vorstand statt des Alleingeschäftsführers – namens Wrabetz – bringen dürfte.
Wunschkonzert
Das Referat des ORF-Generals am Montag im Finanzausschuss klang manchem Stiftungsrat nach einem Wunschkonzert für die Regierungsparteien und ihre Vertreter im Stiftungsrat. Auch über die Social-Media-Regeln hinaus, die Wrabetz dort nur ankündigte: Der ORF, betonte er etwa auch, werde deutlicher auf die Trennung von Meinung und Bericht achten.
FPÖ-Rat Steger hat – mit einem nicht zutreffenden Beispiel – die aus seiner Sicht unkorrekte ORFBerichterstattung über die ungarische Wahl kritisiert. Mehrfach verlangte er eine striktere Trennung von Analyse/Meinung und Bericht; als frisch gewählter Chef des Stiftungsrats verwies Steger auf Österreichs Zeitungen, die das aus seiner Sicht lebten. Sein Parteichef, Vizekanzler Heinz-Chris- tian Strache, teilt mit Vorliebe Artikel von Krone und Österreich.
Strache zeigte sich nach dem Ministerrat den Social-Media-Regeln des ORF auch weniger abgeneigt, wiewohl mit Kurz einer Meinung in Sachen Meinungsfreiheit. Aber: Von einem öffentlich-rechtlichen Sender könne man schon „neutrale“und „unabhängige“und nicht „parteipolitische“Berichterstattung erwarten.
Beim Entwurf von Social-Media-Regeln orientierten sich der ORF-Chef und sein Stab nach eigenen Angaben etwa an den Social-MediaRichtlinien der New York Times. Diese verlangen etwa von den Mitarbeitern des Weltblattes: „ In Beiträgen auf sozialen Medien dürfen unsere Journalisten weder parteiische Meinungen äußern noch für politische Positionen werben, politische Kandidaten unterstützen, beleidigende Kommentare abgeben oder irgendetwas anderes tun, das die Reputation der Times untergräbt.“Vorgesetzte sind für die Einhaltung verantwortlich, Verstöße werden in den Personalakten vermerkt.
Die ORF-Regeln werden laut Entwurf eine „Dienstanweisung“. Vorgesetzte müssen die Einhaltung „sicherstellen“.
Spiegel und Spiegel Online verzichten „bewusst“auf solche Re- geln und vertrauen darauf, dass sich die Mitarbeiter auf den Plattformen „professionell bewegen“. Die Süddeutsche Zeitung hat dazu in den Redaktionsstandards eine Passage, sich wie sonst in der (Medien-)Öffentlichkeit „als SZ- Repräsentant“zu verhalten.
Die großen deutschen öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF wollen ihre Social-MediaRichtlinien auf Anfrage – jedenfalls offiziell – nicht aus der Hand geben. Bei der ARD und ihren Landesanstalten haben die Richtlinien „empfehlenden Charakter“. Ein Verbot von Kritik an Politik und Politikern gebe es nicht, erklärt ein Sprecher auf Anfrage. Aber Journalisten und Journalistinnen müssten „sich bewusst sein, dass er oder sie immer auch als Repräsentant/in der ARD angesehen wird. Daher gelten auch dort die journalistischen Grundsätze sowie die Grundsätze des öffentlich-rechtlichen Rundfunks: Orientierung geben und die Meinungsbildung unterstützen, ohne eine Meinung vorzugeben.“
Das verlangen auch die seit 2012 vom Redakteursrat erstellten „Social-Media-Guidelines für ORF-Journalistinnen“. Und: „Tue nichts, was an deiner Glaubwürdigkeit und Objektivität als JournalistIn Zweifel auslösen könnte.“
Das Generalmotto borgten diese ORF-Guidelines bei der öffentlich-rechtlichen Paradeanstalt BBC: „Tu nichts Dummes!“
Aus diesen drei Wörtern besteht auch die – informelle – Social-Media-Richtlinie für Mitarbeiter des STANDARD.
In Beiträgen auf sozialen Medien dürfen unsere Journalisten keine parteiischen Meinungen äußern. New York Times
Orientierung geben und die Meinungsbildung unterstützen, ohne eine Meinung vorzugeben. ARD