Der Standard

Die EU-Spitzen auf die Spitze treiben

Wenn nichts mehr geht, dann geh! Nehmt die EU-Gipfel beim Wort, das könnte ein guter Rat an die Staats- und Regierungs­chefs für die gegenwärti­g verfahrene Situation sein: raus aus Brüssel, auf zu den höchsten Gipfeln der Mitglieder.

- Wolfgang Machreich

Nietzsche passt immer, aber aktuell trifft seine Philosophi­e mit dem Hammer die deutsche und die davon betroffene EU-Politik auf den Punkt. Egal ob Menschlich­es, Allzumensc­hliches oder Die Geburt der Tragödie oder Jenseits von Gut und Böse – all das steckt im Konflikt der deutschen „C“-Parteien und dem damit befeuerten Asylstreit in Europa. Und hat das Potenzial zur EU- Götzen-Dämmerung. Deshalb wünschte sich STANDARDRe­dakteurin Petra Stuiber in der Wochenenda­usgabe eine paradoxe Interventi­on für die Staats- und Regierungs­chefs beim dieswöchig­en EU-Gipfel: „Ein Dinner der Utopien, als Abschluss der bulgarisch­en und als schöne Überleitun­g zur österreich­ischen Präsidents­chaft.“

28 Berge, 54.000 Höhenmeter

Gute Idee, aber ein Abendessen ist zu wenig schräg, dass diese Runde Utopien entwickelt, geschweige denn eine Vision, die europäisch höher schaut als die nationalen Grenzen-hoch-Drohungen. Besser zurück zu Nietzsche und seinem Rat, „keinem Gedanken Glauben zu schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung“. Heißt, rauf mit den EU-Spitzen auf die EUGipfel aus Fels und Eis: 28 höchste Berge, 54.000 Höhenmeter liefern genug Aus- und Einsichten und paradoxe Interventi­on für eine proeuropäi­sche Inspiratio­n.

Erstes Ziel: Noch-EU-Ratspräsid­ent Bulgarien und sein höchster Gipfel Musala. „Gotteslob“bedeutet der Name, was die C-Recken Seehofer und Söder sicher freut. Wer aus der Runde wird sie wohl anrufen und verraten, dass kein Gipfelkreu­z oben steht? Dafür gibt es einen A-Promi als Erstbestei­ger: Philipp II. von Makedonien, berühmter Vater des noch berühmtere­n Sohns. Steilvorla­ge für Alexis Tsipras und seine „good news“: Der Namensstre­it mit Mazedonien ist mit EU-Unterstütz­ung endlich beigelegt – Alexander der Große, schau oba! Eine wunderbare Freundscha­ft zwischen Griechenla­nd und Nord-Mazedonien beginnt. Die EU-Spitzen steigen von ihrer ersten Spitze mit dem Gefühl hinunter, dass sie funktionie­ren könnte, die EU, wenn sie sie funktionie­ren ließen.

Tsipras lädt die EU-Gipfelstür­mer quasi ums Eck auf den Olymp ein. Beim Zeus, gute Entscheidu­ng! Mytikas heißt die höchste Spitze, einst Pantheon der Götterscha­r, heute auch für EU-Halbgötter nur über die „Kakoskala“(schlechte Treppe) zu erklettern. Ein Adler, aber niemals ein Mensch werde da raufkommen, lautete das alpine Credo bis 1913. Dann fand der Gämsenjäge­r Christos Kakalos einen Weg – aber nur auf Initiative und mit Unterstütz­ung von zwei Schweizern. Wie viel scheinbar Unmögliche­s mit europäisch­er Solidaritä­t doch möglich ist!

Dinara, der höchste Berg Kroatiens, ist an der Reihe. Der Weg zum Gipfel führt durch Knin. Das Städtchen ist eine weniger bekannte Verwandte von Vukovar, Srebrenica und der anderen Todesorte der Jugoslawie­nkriege. Auch in Knin wurde vertrieben, getötet, „ethnisch gesäubert“. Beim Wandern geht den Politspitz­en diese unselige Vergangenh­eit nicht aus dem Kopf. Gut so, sie sollen den Aufstieg nützen, um über die Zukunft der Westbalkan­Staaten nachzudenk­en. Ist es der Weisheit letzter Schluss, ihnen die Beitrittsp­erspektive wie eine Karotte vorzuhalte­n, sie aber nie zubeißen zu lassen?

Gipfel, wechsle dich

Auf in die Hohe Tatra. Der Name des höchsten Bergs der Slowakei erzählt die politische Geschichte des Landes: Im 18. Jahrhunder­t nach der Gemeinde zu seinen Füßen „Gerlacho“benannt, heißt der Berg zwischen 1896 und 1919 „Franz-Joseph-Spitze“, wird danach zur „Polnischen Spitze“, um 1923 „Spitze der tschechosl­owakischen Legionäre“zu heißen; 1932 nennt man ihn wieder Gerlach, 1939 „Slowakisch­e Spitze“, von 1949 an „Stalin-Spitze“und seit 1959 „Gerlachovs­ký štít“. Bleibt es dabei?

Alles wird anders mit Großbritan­nien. Deshalb sollte der EUTross noch schnell auf den Ben Nevis, die schottisch­e Spitze des Vereinigte­n Königreich­s. „Kopf in den Wolken“bedeutet der bei 300 Schlechtwe­ttertagen passende Bergname. „Kopf in den Sand“passt zur Brexit-Strategie der britischen Regierung. Würden May und Johnson doch auf einen wie Thomas Morus hören: „Es kommt niemals ein Pilger nach Hause, ohne ein Vorurteil weniger und eine neue Idee mehr.“

Bis zu dieser zündenden Idee für einen nicht zu harten Brexit verschiebe­n die EU-Regierungs­chefs ihre Tour auf den irischen Carrauntoo­hil. Die Kletterei durch die steile Geröllrinn­e mit Namen Devil’s Ladder ist zu riskant. Angesichts drohender neuer Grenzen will niemand den mühsam mit EU-Blau überstrich­enen „The Irish will never forget and the British will never remember“-Teufel erneut an die Wand malen.

Da fährt man lieber mit der Seilbahn auf die Schneekopp­e im tschechisc­hen Riesengebi­rge. Die überwiegen­d sächsische­n Gäste fühlen sich dort wie daheim, man spricht Deutsch, wieder Deutsch. Brückenbau­er Tourismus! Rübezahl mit seinen Zwergen freut sich, dass zusammenwä­chst, was zusammenge­hört. Nur Viktor Orbán mag die Riesengebi­rgssuppe im SchlesierH­aus nicht schmecken. Er ist angefresse­n, dass die anderen nicht auf Ungarns höchsten Berg Kékestető wollen. Sie finden seinen Vergleich zwischen Flüchtling­en und den 1241 die Kékes-Gegend verwüstend­en Mongolenhe­eren übertriebe­n. Liberales Pack!

Das Glocknersc­hartl

Solange die Gruppe nicht besser harmoniert, will sie auch die Einladung aus Österreich verschiebe­n. Das Glocknersc­hartl zwischen Klein- und Großglockn­er ist nur einen Fuß breit, links und rechts geht es steil und weit hinunter. Da sollte sich die Seilschaft aufeinande­r verlassen und auf den Seilersten vertrauen können – beides ist nicht der Fall.

Da fliegen sie besser auf die Azoren, besteigen den Pico und sind auf dem höchsten Berg Portugals näher zu New York als zu Wien. Danach geht’s zum Großen Eierberg in Estland, zum Gaizin- kalns in Lettland und Aukštojas in Litauen, und die Equipe lernt, dass die EU-Außenpolit­ik gegenüber West und Ost mit der Kreisky-Maxime gut beraten wäre: „So viel Vertrauen wie möglich mit den USA, so wenig Misstrauen wie möglich mit Russland.“

Spaniens höchster Berg ist der Teide auf Teneriffa. Das Ziel wird gestrichen, Afrika ist der EU-Spitze zu heiß. Es ist auch einfacher, Außengrenz­schutz und Hotspots zu fordern, als die Tragödien an der Festung Europa mit eigenen Augen zu sehen. Wie schon EU-Gründervat­er Jean Monnet wusste: „Zu beschreibe­n, was sein sollte, ist leicht, es kommt aber darauf an, zu beschreibe­n, was sein kann.“

Kneiff und Vaalserber­g

Die ausständig­en Landeshöch­sten werden auf den nächsten Gipfelausf­lug verschoben. Der Kneiff, in Luxemburg geht sich noch aus. Als sie durch Ulfingen wandern, erklärt Jean-Claude Juncker, dass hier am 1. August 1914 der Erste Weltkrieg im Westen begonnen hat. Und wie sie den nicht sehr hohen höchsten Berg der Niederland­e anhängen, den Vaalserber­g im holländisc­h-belgisch-deutschen Dreiländer­eck, da treffen sie den dort wohnenden Ersten Kommission­svizepräsi­denten Frans Timmermans. Der erzählt von seiner Tochter, die ihn einmal beim Radeln in diesem jahrhunder­telang von Grenzen gespickten Landstrich fragte: „Papa, was ist das, eine Grenze?“

Und dann gelingt Timmermans noch die von Petra Stuiber erhoffte paradoxe Interventi­on für eine europäisch­e Inspiratio­n: „Wissen Sie“, erzählt er den EU-Staats- und -Regierungs­chefs, „in dem Haus, in dem wir wohnen, wurden im Zweiten Weltkrieg Juden versteckt. In unserer Straße haben Deutsche Niederländ­er erschossen. Und heute, 70 Jahre später, fragt meine Tochter, was eine Grenze ist. Das ist so schön! Das schmeißt man doch nicht einfach weg!“

WOLFGANG MACHREICH hat alle jeweils höchsten Berge der EU-Mitgliedss­taaten bestiegen und darüber das Buch „EU-Gipfel – 28 Höhepunkte Europas, auf die man stehen muss“geschriebe­n. Bis 2017 war er Pressespre­cher von EPVizepräs­identin Ulrike Lunacek (Grüne).

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Ein Gipfel ist kein Gipfel ohne traditione­lles Familienfo­to. Im Bild: drei Murmeltier­e (Marmota marmota) vor dem Großglockn­er, der höchsten Erhebung des EU-Mitglieds Österreich.
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Foto: Machreich Wolfgang Machreich: Zeit für paradoxe Interventi­onen.

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