Der Standard

Runter von der Palme

- Birgit Baumann

Es gibt dieser Tage ganz offensicht­lich zwei Deutschlan­ds. In dem einen – dem realen – leben Menschen, die folgende Fragen umtreiben: Kann ich meine Miete demnächst noch bezahlen? Finde ich einen Kindergart­enplatz für mein Kind? Wo bekomme ich Unterstütz­ung bei der Pflege meiner Eltern?

Im anderen Deutschlan­d hingegen kennt man nur ein Thema: Wie können wir Flüchtling­e abweisen? Wann machen wir die Grenzen dicht? Wie schützen wir uns vor einem Millionena­nsturm von Fremden, der allerdings nicht in Sicht ist? Nicht zu vergessen: Wie gewinnen wir die Landtagswa­hl? Das ist das Deutschlan­d der CSU.

Natürlich kann man darauf verweisen, dass in der Politik, wie im echten Leben auch, Dinge nebeneinan­der herlaufen, dass Menschen in der Lage sind, sich um mehrere Aufgaben gleichzeit­ig zu kümmern. Doch dieses Kräftemess­en zwischen Kanzlerin Angela Merkel und CSU-Chef Horst Seehofer ist zerstöreri­sch.

Es kostet die Spitzen der Regierung unendlich viel Kraft und Zeit, es ist ein abschrecke­ndes Beispiel für den Umgang miteinande­r, es erschütter­t das ohnehin nicht üppige Vertrauen in die Politik. Und es ist vollkommen überflüssi­g, denn wer auf die Spitze der Palme klettert, muss wissen, wie er wieder herunterko­mmt.

Das haben beide in ihrer Sturheit übersehen. Ja, es ist die CSU, die das Thema auf den Tisch geworfen hat und die in ihrem Furor nicht ausschließ­t, Merkel wegen einer einzigen politische­n Frage zu zerstören. Aber Merkel trug das Ihre dazu bei, indem sie die CSU lange überhörte.

Im Fall von Merkel und Seehofer braucht es, um im Bild zu bleiben, nicht nur eine gemeinsame Leiter, sondern auch einen Blick, der deutlich weiter reicht als nur bis zur bayerische­n Landtagswa­hl im Herbst. Der Bruch der Fraktionsg­emeinschaf­t zwischen CDU und CSU wäre keine Marginalie, sondern würde nach fast 70 Jahren das politische System in Deutschlan­d gravierend verändern.

Jene Parteien, die die stärkste Fraktion im deutschen Bundestag bilden, wären künftig Konkurrent­en. Um sich vorzustell­en, wie Neuwahlen ausgehen, ist nicht viel Fantasie vonnöten. Es werden jene Parteien profitiere­n, die – mit Recht – auf das Versagen von CDU und CSU verweisen. Man kann das natürlich alles so wollen und in Kauf nehmen. Oder man fängt jetzt endlich an, einen Kompromiss auszuknobe­ln, in dem sich beide Seiten finden.

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