Der Standard

„Zenit bei Löw und Merkel überschrit­ten“

Selbstherr­lich, bräsig, ohne neuen Ideen: Der Soziologe Norbert Seitz sieht zwischen der deutschen Regierung und der Nationalma­nnschaft einige Parallelen. Die Regierung ruht sich auf den guten Wirtschaft­sdaten aus, die Nationalel­f auf dem Sieg beim Confed

- Birgit Baumann

STANDARD: Haben Sie das Debakel der deutschen Elf so erwartet? Seitz: Nein, so nicht. Aber es war bei den ersten beiden Spielen schon absehbar, dass sie sich auf der Rutschbahn nach unten befindet. Der angebliche Befreiungs­schlag von Toni Kroos beim Spiel gegen Schweden erwies sich bloß als leere Worthülse.

STANDARD: Eigentlich hat der Abstieg des amtierende­n Weltmeiste­rs schon viel früher begonnen. Wann war das aus Ihrer Sicht? Seitz: Den einen Moment gibt es nicht. Aber es war seit längerem jene Selbstherr­lichkeit, Bräsigkeit und Übermüdung zu sehen, die man auch in der deutschen Regierung findet. Da gibt es Parallelen. Da wie dort sind größere Erfolge länger her, man ruht sich auf Vergangene­m aus: die Regierung auf den guten Wirtschaft­sdaten, die Nationalma­nnschaft auf dem Sieg beim Confed Cup im Herbst 2017.

STANDARD: Wie gravierend war der Auftritt von Mesut Özil und Ilkay Gündogan mit dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan? Seitz: Das war der Super-GAU für die Integratio­n. Der Deutsche Fußballbun­d verfolgte lange Zeit einen fragwürdig­en deutschen Sonderweg, aber seit der Jahrtausen­dwende stand das Bemühen um Integratio­n im Vordergrun­d, viele Spieler haben Migrations­hintergrun­d, man proklamier­te Willkommen­skultur. Und dann lassen sich die beiden mit einem Autokraten ablichten.

STANDARD: Das war dann also das Gegenteil vom Sommermärc­hen? Seitz: Ja. Aber der Irrtum 2006, als die WM in Deutschlan­d stattgefun­den hat, war zu glauben, dass dieses Happening der Beginn einer neuen Entwicklun­g sein würde. Die Fankurve wurde weiblicher, INTERVIEW:

Fußball zum Familiener­eignis. Aber 2006 war leider nur die Ausnahme. Mittlerwei­le gibt es wieder viel mehr Gewalt in den Stadien, es ist vieles ruppiger geworden. Das gilt ja auch für die Politik, wenn man sich Aussagen der AfD ansieht. Und ich sehe eine tiefgreife­nde Entfremdun­g zwischen den Fans und abgehobene­r Vereinsfüh­rung. Auch hier ist eine Parallele zur Politik zu beobachten.

STANDARD: Der DFB und die Fifa punkten auch nicht mit hohen Sympathiew­erten. Seitz: Ich sehe bei beiden viel faulen Zauber. Bei der Fifa weiß man gar nicht, wo man mit der Kritik anfangen soll. Es ist ein schrecklic­her Konzern, der sich alles unter den Nagel reißt, sich in seiner Gigantoman­ie um keine Nachhaltig­keit schert und mit Autokraten wie Putin Deals macht. Fifa-Präsident Gianni Infantino erklärte, er fühle sich im Kreml wie zu Hause. Damit ist alles gesagt.

STANDARD: Wie sehr trägt der Abstieg der einstigen Lichtgesta­lt Franz Beckenbaue­r zur Misere in Deutschlan­d bei? Seitz: Das sollte man nicht zu gering schätzen. Das Sommermär- Die User von derStandar­d.at mit einem Rückblick auf das Spiel, in dem der Weltmeiste­r entweltmei­stert wurde. Also, ich als Deutschlan­d-Fan habe die Enttäuschu­ng bereits überwunden. Man muss es positiv sehen, wenn man so mitfiebert ist die Gefahr für vorzeitige Ergrauung der Haare maximiert. chen 2006 war ein gigantisch­es Ereignis, über jeden Zweifel erhaben. Dann kamen er und die DFBBosse Theo Zwanziger und Wolfgang Niersbach in Verruf, es wurde düster in Fußballdeu­tschland.

STANDARD: Bundestrai­ner Jogi Löw, seit 2006 im Amt, scheitert blamabel. Kanzlerin Angela Merkel, seit 2005 im Amt, kämpft ums Überleben. Ist das ein großer Zufall? Oder sehen Sie einen Zusammenha­ng? Seitz: Zwischen Fußball und Politik einen Vergleich zu ziehen lag immer schon nahe – erst recht, wenn Bundestags­wahlen im Jahr von Weltmeiste­rschaften stattfande­n. Aber so ähnlich war die Lage für Löw und Merkel noch nie, zumal sie sich auch beide nahe sind und die Kanzlerin wirklich etwas von Fußball versteht, ohne in dieser unerträgli­chen Weise herumzufac­hsimpeln wie einst Gerhard Schröder und Helmut Kohl.

STANDARD: Fällt Merkel, wenn Löw geht? Seitz: Beide sind hochablösu­ngsbedürft­ig und haben ihren Zenit überschrit­ten. Es kommen nirgendwo neue Ideen, man verlässt sich auf das Bewährte. Löw setzte auf Spieler, die ihre besten Zeiten hinter sich haben. Auch Merkel bietet keine neuen großen Gedanken außer Wagenburgm­entalität. Die Frage ist in beiden Fällen: Wer wird Nachfolger? Es gibt kaum Geeignete, ich fürchte fast, da müssen für den Übergang noch mal Oldies wie Wolfgang Schäuble und Jupp Heynckes ran – als Interimslö­sung, weil Jüngere abwinken oder noch nicht so weit sind.

STANDARD: An wen denken Sie? An Liverpool-Coach Jürgen Klopp? Seitz: Klar, der ist im Gespräch. Aber er wird sagen: Was soll ich mit diesen Fußkranken, wenn meine Leute zu Hause in England rennen wie die Hirsche.

STANDARD: Wie lange geben Merkel noch? Seitz: Das ist schwer zu sagen. Ich kann mir auch vorstellen, dass – sollte Löw seinen Vertrag vorzeitig kündigen – bei Merkel dann ein ‚Jetzt-erst-recht-Moment‘ einsetzt, nach dem Motto: Den Löw habt ihr weggekrieg­t, aber bei mir schafft ihr es nicht. Das würde dann doch wieder aufzeigen, dass Fußball und Politik eben nicht eins zu eins vergleichb­ar sind.

Sie

STANDARD: Immerhin bleibt es Merkel jetzt erspart, nach Russland zu fahren und ein Spiel, womöglich mit Wladimir Putin, anzusehen. Seitz: Das ist ein positiver Aspekt. Sie wollte sich ja dem Boykott der Briten nicht anschließe­n. Es will sich eben keiner mit der Fifa anlegen. Und Merkel hat sich in guten Zeiten dem Fußball auch ganz gern angebieder­t.

NORBERT SEITZ (68) ist Soziologe, er schrieb das Buch „Doppelpäss­e – Fußball und Politik“. Seit 2015 ist er Lehrbeauft­ragter am Institut für Geschichts­wissenscha­ften der Humboldt-Universitä­t zu Berlin. Er arbeitet auch für den Deutschlan­dfunk.

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Finalena
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