Wie sähe der Kunstkanon ohne koloniale Prägung aus? Viele Sammlungen spiegeln einen eurozentrischen Blick wider. Jetzt gibt es viel Druck, dies aufzuarbeiten. Postcolonial-Experte im Gespräch.
Christian Kravagna
Die Benin-Bronzen (hier eine in Berlin verwahrte Figur, 17./18. Jh.) sind zum Symbol für geraubte Kunst und die Frage geworden, wie man in einer globalen Gegenwart außereuropäische Kunst adäquat präsentieren kann. Es gilt, eine Perspektive einzunehmen, die Hierarchien abbaut – auch in Museen bildender Kunst.
Hello World“: Ein freundlicher Gruß hinaus in die Welt, der signalisiert: Wir haben es endlich verstanden, wir sind nicht der Nabel der Welt. Die Nationalgalerie in Berlin ist der Aufforderung nachgekommen, einer globalisierten Gegenwart Rechnung zu tragen. Sprich: sich die Frage zu stellen, wie die vom westlichen Blick geprägte Sammlung heute aussähe, hätte ein weltoffeneres Verständnis ihre Entstehung und ihren Kunstbegriff geprägt. Initiiert hat diese in eine Ausstellung mündende Revision paar Jahren aufholen. Im deutschsprachigen Raum gibt es eine jahrzehntelange systematische Ignoranz gegenüber der Kritik eurozentrischer Sammlungspolitik. Und plötzlich soll es ganz schnell gehen. Es entsteht eine Art Wettbewerb, wer das am schnellsten und breitenwirksamsten macht. Das ist deshalb interessant, weil der Impuls, die Sammlungen zu reflektieren, nicht unbedingt aus den Institutionen selbst kommt.
Standard: Das Projekt „Museum global“gab den Anstoß ... len Charakter. Es sollte vielmehr darum gehen, die eigene Sammlungs- und Ausstellungsgeschichte im Kontext einer Gesellschaftsgeschichte und politischen Geschichte zu begreifen. Dann erkennt man, dass etwa die Wirklichkeit der britischen Kunstgeschichte nach 1945 nie abgebildet wurde. Forschungen zeigen, dass die Kunstszenen in den 50ern und 60ern viel internationaler und transkultureller waren, als es die Museumsgeschichte und auch die akademische Kunstgeschichte lange Zeit dargestellt haben.
Standard: Die Londoner Tate hat ihre Hausaufgaben gemacht. Kravagna: Ja. Die Frage ist, was für welche Gesellschaft Sinn macht. Es ist klar, dass die Tate in den letzten Jahren vor allem Kunst derjenigen sammelte, die die britische Nachkriegsmigration prägten – also afrikanische, karibische und südasiatische. Wichtig sind die Anknüpfungspunkte. Was bei „Museum global“geschieht, ist teils beliebig. Weil der Blaue Reiter eine Künstlergruppe war, plant das Münchner Lenbachhaus eine Schau mit Künstlergruppen aus aller Welt. Wäre es nicht naheliegender, sich etwa über die Reiseziele der Blauen-Reiter-Künstler mit den Beziehungen zu Nordafrika auseinanderzusetzen? Manche dieser Projekte scheinen weniger wissenschaftliche als wirtschaftspolitische Hintergründe zu haben.
Standard: Wirtschaftspolitisch? Kravagna: Im Bereich der ethnologischen Museen und sogenannten Weltmuseen gibt es eine große Debatte über die Rückgabe geraubter Objekte. Seit Jahrzehnten werden die Restitutionsforderungen der Herkunftsgesellschaften konsequent abgeblockt. Es heißt immer: Nein, die Werke gehören der gesamten Menschheit, oder: Wir können sie nicht zurückgeben, weil anderswo die konservatorischen Bedingungen nicht erfüllt werden. Aber vor ein paar Monaten hat Emmanuel Macron bei seinem Afrikabesuch versprochen, dass Frankreich sich mehr bemühen wird, afrikanische Kunst zurückzugegeben. Kaum geschehen, möchte die deutsche Bundesregierung schneller sein, und die ethnologischen Museen sollten möglichst schnell entsprechende Aktionen setzen. Die Notwendigkeit, die Kolonialgeschichte der Museen zu reflektieren, wird neuerdings vom nationalen Wettbewerb um Einflusssphären in afrikanischen Ökonomien überlagert.
Standard: Können solche Initiativen nicht auch Bewusstsein schaffen, das zur Handlung zwingt? Kravagna: Ja, sicher. Aber die Motivation, dass wir handeln müssen, weil andere handeln, ist nicht unbedingt die produktivste. Es ist bedauerlich, wenn der Druck der Konkurrenz mehr auslöst als der politische Druck ausgegrenzter Gruppen oder während der Kolonialzeit ausgeplünderter Gesellschaften. derStandard.at/Kultur
CHRISTIAN KRAVAGNA (56) ist Kunsthistoriker mit Schwerpunkten Globale Moderne und Migration. Seit 2006 ist er Professor für Postcolonial Studies an der Akademie der bildenden Künste Wien.