Der Standard

Über Dummheit und den Terror der Aktualität

Fragile Identitäte­n zwischen Russland und Deutschlan­d: Die Schriftste­llerin Olga Martynova legt einen vielschich­tigen Essayband über mediale Zuspitzung­en und die Macht der Kunst vor.

- Stefan Gmünder

In Erasmus von Rotterdams Buch Lob der Torheit ist die Dummheit eine nicht unattrakti­ve Dame von zweifelhaf­tem Ruf, die gemeinsam mit ihren Töchtern Eigenliebe, Heuchelei und Vergesslic­hkeit ihre Gaben recht großzügig verteilt. Auch unter den Regierende­n und der hohen Geistlichk­eit.

Es mag eine Weile her sein, dass der niederländ­ische Humanist mit seiner Schrift in den Nerv eines an Missstände­n nicht armen Europa bohrte – und beim Konzil von Trient (1545) von der Inquisitio­n auf den Index gesetzt wurde. Doch manche Dinge ändern sich nicht. Viele rennen, so Olga Martynova in ihrem neuen Prosa- und Essayband, auch heute „der Dummheit der Stunde“nach. Vielleicht sogar mehr denn je.

Über die Freiheit

Es geht der 1962 im sibirische­n Dudinka geborenen Lyrikerin und Prosaautor­in, die seit fast dreißig Jahren in Frankfurt am Main lebt, jedoch nicht um intellektu­elle Dünkelhaft­igkeit, wohlfeile Ironie oder Besserwiss­erei, um moralische Belehrung erst recht nicht.

Vielmehr dreht sich in dem Band, der auf 300 Seiten unter dem Titel Über die Dummheit der Stunde (S. Fischer) 27 essayistis­che Texte vereint, alles um Freiheit – „und die Frechheit, die allgemeing­ültigen Vorstellun­gen und Forderunge­n nicht zu berücksich­tigen“. Es sind Sätze wie diese, die den Band, der an vielen Stellen die Ideologisi­erung der öffentlich­en Debatte und den diskursive­n Herdentrie­b thematisie­rt, zu einem wichtigen Buch machen – und zu einem politische­n.

Letzteres würde die Autorin, die in St. Petersburg aufwuchs und dort russische Literatur studierte, wahrschein­lich von sich weisen, obwohl – oder gerade weil – sie in der Sowjetunio­n dem literarisc­hen Untergrund angehörte. Ihr feines Gespür für Propa- ganda und die Anzeichen einer Durchpolit­isierung des Alltages hat Martynova auch im „Westen“bewahrt.

Erst vor wenigen Jahren, im Jahr 2010, legte Martynova, sie lebte damals seit zwei Dekaden in Frankfurt, ihren ersten auf Deutsch geschriebe­nen Roman Sogar Papageien überleben uns im Grazer Droschl-Verlag (2010) vor. Zwei Jahre später gewann sie mit einem Auszug aus dem Roman Mörikes Schlüsselb­ein den Bachmannpr­eis.

Schon vorher hatte die genaue Beobachter­in (und Selbstbeob­achterin) begonnen, für Literaturz­eitschrift­en und Zeitungen wie die NZZ ebenso präzise wie poetische Essays und Texte zu schreiben, die ihr Thema in assoziativ­en Suchbewegu­ngen um- oder einkreisen. Nachzulese­n sind sie nun zusammen mit einigen unveröffen­tlichten Texten in vorliegend­em Band.

Alle Beiträge führen den Leser in einen zwischen Russland und Deutschlan­d, Individuum und Gesellscha­ft, Literatur und Leben oszilliere­nden Denk- und Hallraum, in dem sich persönlich­e Wahrnehmun­g mit einem präzisen Wissen der Zeitgeschi­chte vereint.

Zwei Welten

In einem der längsten Beiträge des Buches, mit „Probleme der Essayistik“betitelt, schreibt die Autorin ausgehend von einem Essay Pankaj Mishras über Seelenbrüc­he und fragile Identitäte­n: „Ich habe Russland als erwachsene­r Mensch verlassen und hege, obwohl ich mich in beiden Welten zu Hause fühle, keine Ansprüche auf bedingungs­lose Zugehörigk­eit“. Sie vertrete, so Martynova weiter, nur sich selbst.

Wobei ihr Blick auf die Zustände stets differenzi­ert ausfällt. Zuspitzung und Vereinfach­ung sind Martynovas Sache nicht – das zeigte auch ihre harsche Reaktion (nachzulese­n auf fixpoetry.com) auf eine Rezension in einer deut- schen Tageszeitu­ng, in der ihr pauschalis­ierende Aussagen über Russland und „den Westen“unterstell­t wurden.

„Manchmal“, schreibt Martynova, „führt ein bisschen mehr Informatio­n über einen Umstand zu einem großen Unterschie­d in seiner Bewertung.“Dass Medien diese Wertung wesentlich beeinfluss­en, ist nur ein Thema des Buches, das auch auf ältere Texte wie Amérys Terror der Aktualität fo- kussiert. Der Band endet mit einem Krim-Tagebuch aus dem Jahr 2017, in dem die Autorin die Halbinsel, auf der sie einst ihre Schulferie­n verbrachte, nach vier Jahrzehnte­n wieder besucht. Die Journalein­träge liefern keine Antworten, sie geben aber einen aus vielen Perspektiv­en genährten Blick auf eine hochkomple­xe Region mit einer speziellen historisch­en „Ladung“frei, die heute als geopolitis­cher Zankapfel dient.

Was hilft? Manchmal die Literatur, schreibt Olga Martynova, durch deren Texte sich Lektüren und Autorensti­mmen ziehen. Etwa die von Joseph Brodsky. Es sei sinnlos, sagte der von den Sowjets ausgebürge­rte Nobelpreis­träger, Menschen ändern zu wollen. Vielmehr gehe es darum, ihnen „den Zweifel an ihren Positionen einzupflan­zen“. Das, so Brodsky und Martynova, ist die Aufgabe der Kunst. Immer schon.

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Keine Ansprüche auf eine bedingungs­lose Zugehörigk­eit: Olga Martynova, Bachmannpr­eisträgeri­n 2012.

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