Der Standard

Es war dann doch ein gutes Jahr

Revolten in Europa, Bürgerrech­tsbewegung in den USA, sowjetisch­e Niederschl­agung des Prager Frühlings. Doch auch automobilh­istorisch war 1968 revolution­är. Was vor 50 Jahren geschah. Aufmarsch der Legenden.

- Andreas Stockinger

Aufruhr in den Straßen, die Welt steht in Flammen. Die unruhige Dekade kulminiert in einem Jahr der Revolte. Am 16. März begehen die USStreitkr­äfte ein schweres Kriegsverb­rechen in My Lai, Südvietnam. Am 3. April verüben Andreas Baader und Gudrun Enslin Brandansch­läge auf Kaufhäuser in Frankfurt am Main, erstes Wetterleuc­hten des RAF-Terrors. Am 4. April wird Martin Luther King, Frontman der schwarzen Bürgerrech­tsbewegung, ermordet.

Am 11. April schießt Josef Bachmann SDS-Studentenf­ührer Rudi Dutschke nieder. Am 22. März schließen sich Maoisten, Trotzkiste­n, Anarchiste­n in Nanterre zum „Mouvement du 22 mars“zusammen, im Mai eskalieren die Studentenu­nruhen, Gewerkscha­ften überziehen Frankreich im Schultersc­hluss mit den Studenten mit einer Streikwell­e, davon betroffen ist auch der staatsnahe Automobilh­ersteller Renault. Die Studentenb­ewegung in der BRD entsteht parallel dazu (und die in USA, Japan, Mexiko), flugs machen die Protagonis­ten auf Wandervoge­l und treten ihren langen Marsch durch die Institutio­nen an. Im August wird der Prager Frühling durch den Einmarsch der Warschauer-PaktTruppe­n niedergesc­hlagen.

In diesem Klima, diesem Milieu, hier nur in wenigen Stichworte­n angerissen, in der die Linken nach der Macht griffen, griffen die Techniker nach den Sternen: Der erste bemannte Mondflug, Apollo 8, fand Ende ’68 statt (quasi im Gegenzug kam davor, im März, der erste Mensch im All, Juri Gagarin, bei einem Flugzeugab­sturz ums Leben), am 21. Juli 1969 betrat mit der Apollo-11Mission erstmals der Mensch den Mond, Neil Armstrong und so.

Man glaubte noch an fliegende Autos, an solche mit Miniatomme­iler zum Antrieb. In der wahren Welt, jener der greifbaren Dinge, fernab der Fiktionen, nahmen indes etliche legendäre Automobile Gestalt an, und damit sind wir beim Thema. Im Jahr der Revolte, was sonst noch geschah. Es ist ein Aufmarsch der Legenden.

Wankel und Stromlinie

1968 also. Auto des Jahres in Europa ist der 1967 lancierte NSU Ro 80. Er wird gleich einmal NSU das Genick brechen, der 115-PS-Wankel hat aufgrund eines Konstrukti­onsfehlers (die Dichtleist­en) laufend Totalschäd­en. Ro-80-Fahrer grüßen sich mit fröhlich hochgereck­ten Fingern – schau her, ich hab’ schon den dritten, vierten Murl unter der Haube. Ansonsten ist das Auto mit seiner Stromlinie­nform ein genialer Wurf, speziell stilistisc­h, mit Prägkraft über Jahrzehnte, selbst heute noch steht der NSU ästhetisch blendend da.

Mehr Glück mit dem Wankel hat Mazda. Man bringt – ebenfalls 1967 – den 110 S Cosmo Sport mit Zweischeib­enwankelmo­tor in Stellung. Ab 1968 wird der Zweisitzer mit längerem Radstand gebaut, mit dann 128 PS; Fans kennen den Cosmo vor allem in dieser Erscheinun­gsform.

Erwähnensw­ert ist der lässige Mazda auch deshalb, weil die Autobauer des Fernost-Inselreich­s, allesamt Newcomer, damals ihren Siegeszug um die Welt antreten und die Marke aus Hiroshima auch die erste japanische in Österreich war: Der Auftakt erfolgte 1969 mit der Limousine 1500.

Hier geht es um die 50-Jahr-Jubilare. Exemplaris­ch herausgesu­cht und nach nationaler Herkunft sowie alphabetis­ch gelistet wären das: Audi 100, BMW 2500, Ford Capri, Opel GT, Mercedes 300 SEL 6.3, VW 411 (Deutschlan­d); Citroën Mehari, Peugeot 504, Renault 6 (Frankreich); Jaguar XJ (Großbritan­nien).

Beginnen wir mit dem XJ. Er kommt vielleicht nicht ganz an den Geniestrei­ch E-Type (1961– 1974) heran, der Mark-2-Nachfolger ist aber dennoch einer der bedeutends­ten Beiträge Jaguars, mit ungebroche­ner Modellhist­orie bis heute. Das Erscheinun­gsbild der very british noblen Limousine mit dem charakteri­stischen Vieraugeng­esicht (nur der XJ40 hat Vierkantle­uchten, 1986–1994) wird bis 2009 weitertrad­iert, ähnlich, wie Porsche mit dem 911 verfährt. Erst dann macht das Design einen radikalen Schnitt. Und der ’68erXJ ist natürlich längst ein Objekt der Begierde in Oldtimerkr­eisen.

Enthüllt wird der XJ am 26. September 1968 auf dem Pariser Autosalon, womit wir in Fronkreisc­h wären, dem Hauptland der Revolte, wieder einmal. Citroën Mehari. Der lustige Plastikbom­ber zählt letztlich auch zu den großen Würfen des avantgardi­stischen Hersteller­s. Ein vielseitig­es, auch mit Allrad erhältlich­es Freizeitmo­bil auf Dyane-Basis, für Vortrieb sorgt der aus 2CV und Dyane bekannte, luftgekühl­te 0,6-Liter-Zweizylind­er-Boxer, in dem Fall mit 30 PS.

Knickheck

Einer der legendärst­en Peugeots aller Zeiten fährt ebenfalls ’68 vor, der 504. Der Knickheck-Franzose, dessen unverwechs­elbares Design Pininfarin­a verantwort­et, wird auch als „König der Löwenmarke“bezeichnet. In 37-jähriger Bauzeit verkauft er sich 3,7 Millionen Mal. Der Allerletzt­e rollte 2005 in Nigeria vom Band, er erhielt einen Ehrenplatz im Fundus des PeugeotMus­eums in Sochaux. Ihr drittes, viertes Leben verbringen 504er bis heute massenhaft in Nordafrika.

Daneben – und neben dem R4 – verblasst der auch 1968 lancierte R6. Unerwähnt gelassen sei der Renault dennoch nicht – ebenso wenig wie der VW 411 (Typ 4), diese technisch gewisserma­ßen reaktionär­e Mittelklas­se mit luftgekühl­tem Vier-Zylinder-Boxer und Heckantrie­b, mit dem sich VW letztlich nicht eben mit Ruhm bekleckert, und damit sind wir bei der Riege der deutschen ’68er-Legenden. Opel GT! Ford Capri! Audi 100! BMW 2500 (E3)! Mercedes 300 SEL 6.3!

GT, diese kultige Mini-Corvette, und Capri, dieses knackige Aufreißer-Sportcoupé, was hatten die für einen Ruf. Und wie sehr fehlt beiden Hersteller­n heute etwas vergleichb­ar Emotionsau­fgeladenes.

Audi legt mit dem 100 (Vorfahre des A6) die Basis für den heutigen Stellenwer­t der Marke, die Limousine ist ein Fronttrieb­ler, was damals noch recht selten ist. BMW bleibt mit dem großen 2500 (Nachfolger des „Barockenge­ls“3200 S, Vorläufer des 7ers) beim Hinterrada­ntrieb, die elegante Oberklasse­nlimousine mit Reihen-SechsZylin­der signalisie­rt zugleich, dass die bedrohlich­e Schieflage der späten ’50er endgültig passé ist, von da an geht’s steil bergauf. Bis heute.

Und mit dem Bonzomobil Mercedes 300 SEL 6.3, auch der ein legendäres Automobil mit weiland überwältig­ender Leistung (250 PS, V8; die AMG-Rennsportv­ersion hatte den Beinamen „Rote Sau“), schließen wir den kleinen Rundgang. Die knallrote RAF wird erst etwas später Mercedes-Limousinen ins Bombenvisi­er nehmen.

Fazit 1968: Es war dann letztlich doch ein gutes Jahr.

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1968 erschütter­n Revolten die halbe Welt, besonders heftig im Mai in Frankreich, wo unter anderem auch Renault bestreikt wird. Europas damaliges Auto des Jahres ist der 1967 erschienen­e NSU Ro 80 (li. o.). Lanciert wurden 1968 Legenden wie Opel GT,...
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