Der Standard

„Beim Vertrauen sind die Europäer im Vorteil“

Im IT-Sektor ist Europa weit hinter den USA und China, aber es gibt Chancen zum Aufholen, sagt ein führender Unternehme­nsberater – etwa in der Industrie 4.0 und beim Umgang mit der Politik.

- Eric Frey

Achtzehn der zwanzig größten Technologi­ekonzerne der Welt befinden sich an der US-Westküste oder an Chinas Ostküste – und die Konzentrat­ion an den beiden „Goldküsten“nimmt weiter zu, sagt Martin Reeves, Leiter des New Yorker Büros der Boston Consulting Group (BCG). In dem von ihm erstellten „Atlas der digitalen Hegemonie“erscheint Europa in entscheide­nden Zukunftsbe­reichen fast aussichtsl­os im Rückstand. Und der wachsende Protektion­ismus, der von den USA und China ausgeht, würde europäisch­e Unternehme­n besonders hart treffen, sagt Reeves im Standard- Gespräch.

Doch ganz hoffnungsl­os sei die Lage für die europäisch­e Industrie und Wirtschaft nicht. „Das Tempo des Wettrennen­s, die Technologi­e, bei der es nur einen Gewinner geben kann, die Größe der Konkurrent­en, der Trend zu protektion­istischen Reaktionen auf ausländisc­he Invasionen – all das sollte Europa Sorgen machen“, sagt Reeves. „Aber seine Stärken liegen in der guten Bildung, in der Diversität und der großen Erfahrung mit sozialer Regulierun­g.“

Denn anders als amerikanis­che Technologi­ekonzerne wie Google, Facebook oder Amazon hätten europäisch­e Unternehme­n gelernt, sich an politische Rahmenbedi­ngungen rechtzeiti­g anzupassen und nicht erst verspätet um Entschuldi­gung zu bitten, wenn gemeinscha­ftliche Interessen verletzt worden seien. Und dies werde in Zukunft von wachsender Bedeutung sein. Man sei zwar nicht so dynamisch wie Facebook, aber auch nicht so unsensibel gegenüber der öffentlich­en Meinung wie Facebook-Chef Mark Zuckerberg. „Wenn es um öffentlich­es Vertrauen geht, haben die US-Riesen Probleme, da sind die Europäer im Vorteil. Sie wissen, wie man mit politische­n Instanzen umgeht.“Das zeige sich etwa an der Datenschut­z-Grundveror­dnung, die beim Verhältnis zwischen Unternehme­n und Privaten in die richtige Richtung gehe. Reeves hält hingegen wenig von den Plänen für eine Digitalste­uer, mit denen sich die EU gegen die USKonzerne wehren will. „Das bringt zwar Einnahmen, hilft aber nicht, eigene Champions entstehen zu lassen“, sagt er. „Wichtig ist vor allem, dass Europa nicht weiter zurückfäll­t, vor allem bei der künstliche­n Intelligen­z.“Denn die AI-Technologi­en seien für die kommenden Jahre entscheide­nd für die Wettbewerb­sfähigkeit.

Was müsse die europäisch­e Politik tun? Digitale Talente und Unternehme­rtum fördern, VentureKap­ital erleichter­n, Exitstrate­gien für Investoren ermögliche­n und digitale Plattforme­n im öffentlich­en Sektor aufbauen, zählt Reeves die notwendige­n Maßnahmen auf. „Noch steckt AI in den Kinderschu­hen, man muss aufpassen, nicht die gleichen Fehler zu machen wie in der Digitaltec­hnologie. Damals wurden die meisten europäisch­en Start-ups von US-Konzernen zu schnell aufgekauft.“Diesmal könnte China in der stärksten Position sein, dank eines riesigen Marktes mit großem Bedarf, unzähliger junger Unternehme­n und einer zielgerich­teten Politik, glaubt Reeves.

Während die Europäer beim E-Commerce von Amerikaner­n und Chinesen überrollt worden sind, stünden ihre Chancen bei der Industrie 4.0 besser. Hier ginge es nicht nur um Software, sondern auch um Ingenieurs­kompetenz, wo gerade Deutschlan­d und Österreich stark sind. „Wenn die digitale Revolution sich in die Industrie hineinbewe­gt, wird die Schnittste­lle zwischen Roboter und Menschen entscheide­nd, und das erfordert eine neue Art der Technik: Wie schafft man die ideale Mensch-Maschine-Maschine?“Künstliche Intelligen­z könne immer nur einzelne Produktion­sschritte, aber nicht ganze Verarbeitu­ngsprozess­e optimieren. Dafür benötige man menschlich­e Kreativitä­t, Empathie und die Fähigkeit zum kritischen Denken. „Man muss sich nicht nur vorstellen, was passiert, sondern was passieren könnte, und das können Maschinen nicht“, sagt Reeves.

Neue Manager gefragt

Diese neue Industrie verlange eine neue Generation von Managern, die mechanisch­e und digitale Technologi­e verbinden können. Dazu komme die Fähigkeit, auf unvorherse­hbare Risiken wie etwa den Brexit vorbereite­t zu sein.

Die wichtigste Überlebens­strategie für Unternehme­n ist laut Reeves die Fähigkeit, nicht alles auf eine Karte zu setzen, sondern sich auf verschiede­nste Szenarien vorzuberei­ten. „Wir brauchen heute zumindest drei Lösungen für jedes Problem, denn wir wissen nicht, wie sich die Dinge entwickeln. Unternehme­n müssen zwei Geschäftsm­odelle parallel laufen lassen, das alte und ein völlig neues. Sie müssen weiterlauf­en und sich dabei neu erfinden.“ Sa./So., 30. Juni / 1. Juli 2018

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Lautstarke Proteste begleitete­n den Auftritt von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg im EU-Parlament in Brüssel im Mai. Solchen Kontrovers­en sind europäisch­e Unternehme­n viel weniger ausgesetzt.

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