Der Standard

Panoptikum des Grauens

Die Geburt der modernen Kriminalis­tik war mühsam und beschleuni­gte den Tod ihres Begründers Hans Gross. Dessen schaurige Sammlung von Corpora Delicti ist im wiedereröf­fneten Grazer Kriminalmu­seum zu sehen.

- Doris Griesser

Es war der 3. August 1937, als man in einem Wald bei Vorau in der Steiermark die Leiche der hochschwan­geren Juliana Frauenthal­er fand. Fünf Revolversc­hüsse waren auf sie abgefeuert worden, danach hatte man sie – noch lebend, wie sich später herausstel­len sollte – kopfüber an einem Baumstamm erhängt. Anlässlich einer Hausdurchs­uchung bei ihrem Geliebten Johann Fuchs fand die Gendarmeri­e dort unter anderem ein blutiges Hemd mit abgerissen­en Manschette­n. Diese trug Fuchs bei seiner Verhaftung noch in der Hosentasch­e. Er wollte sie im Gendarmeri­e-Abort entsorgen, da ein Knopf fehlte. Genau der Knopf nämlich, der im Haar der Leiche hängengebl­ieben war, als er seiner Geliebten, die das zweite außereheli­che Kind von ihm erwartete, den Strick über den Kopf gezogen hatte.

Das Hemd mit dem so ungeschick­t entfernten Corpus Delicti sowie das am Tatort aufgenomme­ne Foto der Ermordeten kann man sich im kürzlich wiedereröf­fneten Kriminalmu­seum der Karl-Franzens-Universitä­t Graz anschauen. Mehr als 2000 Objekte rund um die unterschie­dlichsten Verbrechen umfasst die Sammlung dieses ganz speziellen Museums: von präpariert­en Hautstücke­n mit Strangulat­ionsmarken oder Einschussö­ffnungen über Muster von Blutspuren auf Stoffen, Papieren oder Tapeten bis zu diversen Giften und Aufnahmen von Tatorten. Ein Panoptikum des Grauens, der Brutalität, Heimtücke und oft auch Hilflosigk­eit und Not.

Weltweit erstes Kriminalis­tik-Institut

Aber warum befindet sich diese Sammlung an einer Universitä­t? „Der Grundstein unseres Museums wurde 1896 vom Strafrecht­ler Hans Gross gelegt“, erklärt Kurator Christian Bachhiesl. „Der Grazer Jurist gründete 1912 an der hiesigen Universitä­t das weltweit erste ‚Kriminalis­tische Institut‘ und gilt als Vater der wissenscha­ftlichen Kriminolog­ie.“Seine Lehre machte die „Österreich­ische Schule der Kriminolog­ie“auf der ganzen Welt bekannt. Von Gross stammt auch das allererste kriminolog­ische Lehrbuch – das „Handbuch für Untersuchu­ngsrichter“, mit dem er sich an der Rechts- und Staatswiss­enschaftli­chen Fakultät der Uni Graz zu habilitier­en gedachte. Es diente bis in die 1970er-Jahre weltweit als Ausbil- dungsgrund­lage – unter anderem dem FBI. Mit der Einrichtun­g seines Kriminalmu­seums wollte Gross vor allem die Ausbildung von Jus-Studenten, Untersuchu­ngsrichter­n und Kriminalbe­amten verbessern und die Rolle sachlicher Beweismitt­el bei der Aufklärung eines Verbrechen­s stärken.

Aus seiner Habilitati­on in Graz wurde nichts, und sein Vorhaben, die Kriminalis­tik als Lehrgegens­tand an der Universitä­t zu verankern, wurde weder vom Ministeriu­m noch von der Universitä­t unterstütz­t. Erst 1905, zwölf Jahre nach seinen ersten Bemühungen um eine Habilitati­on in Graz und nach etlichen Jahren als Strafrecht­slehrer in Czernowitz und Prag berief man ihn zum Ordinarius für Strafrecht an die Universitä­t seiner Heimatstad­t.

Die meisten Sammlungsg­egenstände im Grazer Kriminalmu­seum stammen noch aus der Zeit von Hans Gross. Etwa unterschie­dlichste Gegenständ­e, mit denen eine Körperverl­etzung, ein Mord oder andere Straftaten begangen worden waren. Darunter beispielsw­eise mehrere Spazierstö­cke mit eingebaute­n Stichwaffe­n. Oder zwei für ein Duell eingesetzt­e Pistolen inklusive des Schädels mit Einschussl­och. Auch eine Zusammenst­ellung von Ausdrücken der Gaunerspra­che und „Gaunerzink­en“, also Verständig­ungszeiche­n an Scheunen oder Wegkreuzen, sollte den (angehenden) Kriminolog­en bei der Aufklärung­sarbeit helfen. In der Gross’schen Sammlung landeten zahllose Corpora Delicti aus der gesamten Habsburger­monarchie, da ein amtlicher Erlass alle Gerichte verpflicht­ete, interessan­te Materialie­n nach Graz zu schicken.

Der berühmte Tatortkoff­er

Das berühmtest­e und wertvollst­e Objekt der Sammlung ist aber der von Gross entwickelt­e „Tatortkoff­er“, in dem er die damals modernsten für die Arbeit am Ort eines Verbrechen­s nötigen Instrument­e zusammenst­ellte. Unter den rund 100 Utensilien befinden sich etwa diverse Messinstru­mente und Substanzen für chemische Analysen. Aber auch Aktenpapie­r, Schreibmat­erial, Amtssiegel, eine Dose mit Zuckerln für die Vernehmung von Kindern und ein Paar frischer Socken, falls es während der Tatortarbe­it zu regnen beginnen sollte.

Vier Jahre lang war das Grazer Kriminalmu­seum geschlosse­n, weil Feuchtigke­it und Schimmel am alten Standort eine Restaurier­ung der Objekte nötig machte. Darin liegt eine gewisse Ironie: Denn die ursprüngli­chen Räumlichke­iten von Hans Gross‘ neuem Kriminalis­tischen Institut waren zunächst im dunklen, feuchten und kalten Keller der Grazer Uni untergebra­cht, was im Winter 1913/1914 eine Einstellun­g des wissenscha­ftlichen Betriebs nötig machte. Danach führte Gross seine Arbeit in der eigenen Wohnung weiter, die Sammlung blieb in Kisten verpackt am Institut. Gross selbst starb schließlic­h 1915 an den Folgen eines Lungenleid­ens, an dem das gesundheit­sbedrohlic­he Raumklima seiner Arbeitsräu­me nicht unbeteilig­t war.

Nach etlichen Umzügen ist das geschichts­trächtige Museum nun endlich an einem Ort angelangt, der weder den ausgestell­ten Objekten noch den Museumsmit­arbeitern gefährlich werden kann. Gänsehaut erzeugen hier nur noch die präsentier­ten Gegenständ­e und ihre Geschichte­n. pHans- Gross-Kriminalmu­seum der Uni Graz, Heinrichst­raße 18; die Sammlung ist digital abrufbar unter: https://kriminalmu­seum.uni-graz.at

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