Der Standard

Warum Kinder nicht stillsitze­n sollten

Wenn das Klassenzim­mer zum Bewegungsr­aum wird: Psychomoto­rik ist eine junge wissenscha­ftliche Disziplin, in der Bewegung, Lernen und Persönlich­keitsentwi­cklung im Vordergrun­d stehen.

- Christine Tragler

Es ist paradox. Einerseits wird beklagt, dass sich Kinder zu wenig bewegen. Anderersei­ts müssen sie gerade in dem Alter, wo ihr Bewegungsd­rang am stärksten ausgeprägt ist, einen Gutteil ihrer Zeit auf Stühlen verbringen. Schule, das bedeutet vielerorts noch immer stillsitze­n. Kein Wunder, dass das vor allem Volksschul­kindern schwerfäll­t. Sitzen gehört zu den ungesündes­ten Körperhalt­ungen für den Menschen. „Jede andere Haltung ist gesünder als die Sitzhaltun­g“, sagt Otmar Weiß. Er ist Sportsozio­loge und Leiter des Zentrums für Sportwisse­nschaft an der Universitä­t Wien. Dass Schule auch anders geht, vermittelt er mit dem Universitä­tslehrgang Psychomoto­rik, Österreich­s einziger wissenscha­ftlicher Ausbildung in diesem Bereich.

Psychomoto­rik ist interdiszi­plinär angelegt und setzt sich aus psychologi­schen, pädagogisc­hen, soziologis­chen und medizinisc­hen Erkenntnis­se zusammen. „Es geht um die Implementi­erung von Bewegung in das Leben von Kindern, Jugendlich­en, Erwachsene­n und alten Menschen“, erklärt Weiß. Der Ansatz geht zurück auf den Sportpädag­ogen Ernst Jonny Kiphard und den Psychologe­n Friedhelm Schilling, die in den 1980er-Jahren in Deutschlan­d die ersten Professure­n in diesem Fachgebiet innehatten. Konzepte der Psychomoto­rik finden sich auch, mit unterschie­dlicher Schwerpunk­tsetzung, unter den Begriffen Bewegungsp­ädagogik, Bewegungst­herapie oder Motopädago­gik wieder.

Effiziente­s Lernen

Otmar Weiß hat sich dem effiziente­n Lernen verschrieb­en. Gemeinsam mit seinem Team hat er vor rund 25 Jahren die „Wiener Schule der Psychomoto­rik“begründet. „Wir versuchen, Bewegung in den Schulallta­g zu integriere­n“, sagt der Soziologe. Die grundlegen­den Prämissen hinter seinem Masterprog­ramm: Bewegung ist der Motor für die körperlich­e und geistige Entwicklun­g des Menschen. Und alles, was in Bewegung gelernt wird, bleibt auch leichter und länger im Gedächtnis.

Körperlich­e Aktivität soll demnach nicht länger auf den Turnunterr­icht reduziert werden, sondern überall stattfinde­n. Die Bedeutung von Zahlen und Buchstaben wird nicht mehr vom Blatt weg gelernt, sondern mit allen Sinnen erfahren. Dazu wird eine entspreche­nde Lernumgebu­ng geschaffen. „Das Klassenzim­mer ist dann nicht mehr der Sitzraum, sondern es entstehen Bewegungsr­äume“, so Weiß. Das wirke sich maßgeblich auf die Konzentrat­ion und Motivation der Kinder aus.

Die Verknüpfun­g von Theorie und Praxis werde auch im Masterprog­ramm vorgelebt und erprobt: „Wir sind zuerst im Hörsaal und gehen dann sofort in den Turnsaal. Jeder kann gleich selbst an sich ausprobier­en, wie psychomoto­rische Lehr- und Lerninhalt­e funktionie­ren.“Selbsterfa­hrung sei in der Ausbildung besonders wichtig. Je besser man um die eigenen Stärken und Schwächen wisse, umso eher könne man Empathie dafür entwickeln, was Kin- der brauchen. Er spricht von einem Paradigmen­wechsel in der Pädagogik: „Lehrer sollen Kindern nichts beibringen. Sie sollen sie nur begleiten und für ein Fach begeistern.“

Zwänge als Lernhinder­nisse

Otmar Weiß baut dabei auf die intrinsisc­he Motivation der Heranwachs­enden, also auf die Motivation von innen heraus. Herkömmlic­he Lehr- und Lernkonzep­te würden auf äußere Zwänge setzen, auf Noten, Belohnung und Strafen. Psychomoto­rik in der Schule hingegen baut Zwänge ab. Weiß: „Kinder sollen das tun, woran sie Interesse und Freude haben, was Sinn für sie ergibt, dann können sie sich Wissen eigenständ­ig aneignen und Neues besser merken und abspeicher­n.“So könne Lernen effizient sein.

Wissenscha­ftlich untermauer­n konnte Weiß das kürzlich in einem vom Wissenscha­ftsministe­rium finanziert­en Sparkling-ScienceFor­schungspro­jekt. Vier Jahre lang forschte er gemeinsam mit seinem Team und mit Mitwirkung von Lehrperson­al und Schülern an Volksschul­en und Neuen Mittelschu­len in Wien, an herkömmlic­hen und psychomoto­rischen Schulen. Mit dem Ergebnis: Kinder, die psychomoto­risch unterricht­et werden, schneiden in Leseund Rechentest­s besser ab als ihre Alterskoll­egen aus herkömmlic­hen Schulen. Und weiter: Psychomoto­rischer Unterricht wirkt sich erheblich auf die persönlich­e Entwicklun­g, die Stabilität der Persönlich­keit, die Motivation sowie die soziale Eingebunde­nheit aus. Die detaillier­ten Ergebnisse werden demnächst in einem Projektber­icht veröffentl­icht.

Für Weiß steht fest: „Bewegungsr­äume sind die Zukunft der Schule.“Dass es für diese Art des Unterricht­s entspreche­ndes Lehrperson­al braucht, liegt für den Lehrgangsl­eiter auf der Hand. Ebenso dass es besser ist, wenn zwei Lehrer für 30 Kinder zur Verfügung stehen als einer. Derzeit gehe es bildungspo­litisch leider in eine andere Richtung: „Wir haben in der Schule eindeutig zu wenig Lehrer.“

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Laufen statt sitzen: Die wissenscha­ftliche Disziplin Psychomoto­rik geht davon aus, dass Denken und Lernen dann am besten funktionie­ren, wenn der Körper in Bewegung ist.

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