Der Standard

Daniel Kehlmann

„Klagenfurt ist ein Tribunal“

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Als Schriftste­ller muss man mit Kritik leben, aber man darf sich ihr nicht unterordne­n. Man darf sein Werk nicht für besser halten, wenn es Lob erhält; man darf die Arbeit nicht aufgeben, weil man geschmäht wird. Beides ist oft nicht leicht – aber sich um geistige Unabhängig­keit zu bemühen ist das Wesen des Künstlerbe­rufs. Als Schriftste­ller sollte man also dort, wo man kritisiert wird, nicht anwesend sein – nicht im Geiste, schon gar nicht physisch.

Klagenfurt ist ein Tribunal. Die Kritik sitzt dort über Autoren zu Gericht. Diese sind anwesend, sie warten die Urteilsspr­üche ab, sie haben sich klar sichtbar unterworfe­n. Wer das tut, hat für eine ganze Weile, und vielleicht lebenslang, das Recht verloren, sich über die Ungerechti­gkeit der Kritik zu beklagen. Nichts ist erbärmlich­er als ein Schreibend­er, der nach seiner Lesung mit bleichem Gesicht vor der ORF-Kamera lamentiert, dass man ihn so arg missversta­nden hätte. „Ja wärst du doch nicht hingefahre­n!“, möchte man ihm zurufen. „Oder hat man dich gezwungen?“Mich jedenfalls hat keiner gezwungen. Und deshalb bin ich nicht hingefahre­n.

„Es gibt in der Literatur keine Zielbänder, keine Leistungen dieser Art, kein Überholen und kein Abfallen“, so Ingeborg Bachmann in einer ihrer Frankfurte­r Poetikvorl­esungen. Kaum jemand hat so schön die Offenheit der Literatur verteidigt, kaum einer so kompromiss­los klargemach­t, dass Dichtung viele Dinge sein sollte, eines aber nie: ein Wettbewerb, ein Sport.

Wer in aller Welt kam eigentlich auf die Idee, ausgerechn­et nach ihr einen Wettbewerb zu benennen?

Daniel Kehlmann (43) – jüngstes Buch: „Tyll“.

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