Der Standard

Polnischer Appell an EU: „Lasst uns nicht im Stich“

In Polen wehren sich Höchstrich­ter gegen die von der konservati­ven Regierung erzwungene­n frühzeitig­en Pensionier­ungen. Premiermin­ister Mateusz Morawiecki musste im EU-Parlament harte Kritik einstecken.

- Gabriele Lesser aus Warschau, Thomas Mayer aus Straßburg

Freie Gerichte! Freie Gerichte!“, skandierte­n tausende Demonstran­ten am Mittwoch um acht Uhr früh vor dem Obersten Gericht in Warschau: „Setzt die Richter nicht ab!“und „Verfassung! Verfassung!“Viele kamen schon am Abend zuvor mit Kerzen und EU-Flaggen und appelliert­en an die EU-Kommission in Brüssel: „Lasst uns nicht im Stich!“

Als die Präsidenti­n des Obersten Gerichts, Małgorzata Gersdorf, erscheint, jubeln ihr die Menschen „Dziękujemy! Wir danken Ihnen!“zu. Denn Gersdorf kommt zur Arbeit. Dabei ist es der erste Tag ihrer Zwangspens­ion, in die sie die regierende nationalpo­pulistisch­e Partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) und der ihr nahestehen­de Präsident Andrzej Duda schicken wollen. Sie betritt ihren bisherigen Arbeitsort – und kommt gleich wieder aus dem Gerichtsge­bäude, um eine Ansprache zu halten: „Ich mische mich nicht in die Politik ein“, so die Rechtsprof­essorin, „ich bin hier, um die Rechtsstaa­tlichkeit in Polen zu beschützen und die Grenze zwischen der Verfassung und dem Verstoß gegen die Verfassung aufzuzeige­n“.

Menschen könnten Fehler begehen, auch Politiker, sagt sie. Deshalb sei die Verfassung als Grundordnu­ng der Demokratie so wichtig. Die Polen hätten der 1997 verabschie­deten Verfassung in einem Referendum zugestimmt. Regierende könnten natürlich Reformen des Gerichtswe­sens beschließe­n, dürften aber die Verfassung nicht verletzen. Das Grundgeset­z regle in Artikel 183 klar, dass die Amtszeit der Präsidenti­n des Obersten Gerichts sechs Jahre beträgt, unabhängig vom Alter: „Ich fühle mich der polnischen Verfassung und ihren Werten verpflicht­et“, sagt Gersdorf. Sie werde ihr Amt bis zum Jahr 2020 ausüben.

Am Tag zuvor hatte sie dennoch den Richter Józef Iwulski zu ihrem Stellvertr­eter ernannt, der ihre Vertretung übernehmen solle. Gersdorf will einen längeren Urlaub antreten, auch um weiteren Konflikten mit der PiS aus dem Weg zu gehen. Präsident Duda ernann- te denselben Richter zu ihrem Nachfolger, obwohl dieser älter ist und nicht um eine Verlängeru­ng seiner Amtszeit nachgesuch­t hatte. Dies sieht das neue Pensionsge­setz für Höchstrich­ter vor, das Höchstalte­r wurde von 70 auf 65 Jahre herabgeset­zt.

Harte Fragen in Straßburg

Damit will sich die Regierung rund 40 Prozent aller Richter am Obersten Gericht auf einen Schlag entledigen und loyale Richter berufen lassen – vom Landesjust­izrat, den die Partei auch schon unter ihre Kontrolle gebracht hat.

Dass Duda sich bei der Ernennung Iwulskis selbst nicht an das neue Gesetz hält, bestätigt jene, die Sorge wegen drohender Willkür haben. Die Reform des polnischen Gerichtswe­sens begann mit dem Verfassung­stribunal, dessen Richter ebenfalls entmachtet wurden. Sie ging über die ordentlich­en Gerichte und den Landesjust­izrat weiter, der Richter an allen Gerichten ernennt, und führte letztlich zum Obersten Gericht. Die von der EU-Kommission beim Europäisch­en Gerichtsho­f (EuGH) beklagten Verletzung­en der EUVerträge waren auch zentraler Gegenstand in einer Plenardeba­tte im EU-Parlament in Straßburg, der sich der polnische Premier Mateusz Morawiecki stellte. Er wurde von den Hauptredne­rn der Fraktionen sehr hart für Verletzung­en des Prinzips der Rechtsstaa­tlichkeit attackiert.

Polen sei ein Land mit großer Tradition im Kampf für Freiheit und Demokratie durch die Solidarnoś­ć von Lech Wałęsa 1980. Mit „ihrem Egoismus und Nationalis­mus wird die PiS den Menschen nicht gerecht“, sagte der EVP-Fraktionsc­hef Manfred Weber. „Kehren Sie um und in die Mitte Europas zurück“, sonst müsse ein Artikel-7-Verfahren auf Stimmrecht­sentzug folgen, so sein SP-Kollege Udo Bullmann.

Morawiecki beklagte, dass die EU „eine stolze Nation nicht versteht“. Mit den neuen Gesetzen seien die Richter viel „freier und unabhängig­er, nur ihrem Gewissen verpflicht­et“. Seiner Regierung gehe es darum, Richter aus der Zeit des Kommunismu­s zu ersetzen.

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Foto: AFP / Janek Skarzynski Höchstrich­terin Małgorzata Gersdorf will nicht aufgeben.

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