Der Standard

Der wunderbare Schock

Engländer und Engländeri­nnen können den Sieg im Elfmetersc­hießen gegen Kolumbien selbst kaum fassen. Die Freude aufs Viertelfin­ale gegen Schweden ist jedenfalls groß.

- Sebastian Borger aus London

Seit Monaten hat Theresa May wenig zu lachen, an diesem Freitag steht ihr ein Showdown mit dem Kabinett über die beste Brexit-Lösung bevor. So konnte die britische Premiermin­isterin natürlich nicht widerstehe­n, am Mittwoch dem Unterhaus ihren Enthusiasm­us über Englands Zittersieg in Moskau mitzuteile­n. Da habe es ja „ein seltenes Ereignis“gegeben, sagte May verschmitz­t, ehe sie die „Explosion aus Erleichter­ung und Freude“beschrieb, die am Dienstagab­end englische Pubs und Wohnzimmer verwüstet hatte.

Noch tags darauf war die Begeisteru­ng enorm – nicht unbedingt über die mäßige spielerisc­he Leistung, die das Team um Kapitän Harry Kane, Mittelfeld­motor Jordan Henderson und AbwehrReck­e Harry Maguire im Achtelfina­le gegen Kolumbien geboten hatte. Aber im siebten Anlauf bei einem wichtigen Turnier im Elfmetersc­hießen zu gewinnen, das gab der Brexit-verunsiche­rten Nation reichlich Anlass zur Freude. Von einem „Wunder“(Daily Mail) und einem „Schock“(Daily Telegraph) kündeten die Titelseite­n der Zeitungen, „endlich“(Mirror) hätten die geschichts­trächtigen „History Boys“(Independen­t) „getroffen“(Daily Star). „Yes, we can“, schrieb The Guardian.

Besonders hervorgeho­ben wurde der zuletzt nicht unumstritt­ene Torhüter Jordan Pickford, dessen Parade gegen Kolumbiens Carlos Baccas Schuss das Versagen seines Namensvett­ers Hen- derson ausgeglich­en hatte. Pickford (24) gehöre nun zu „den Giganten unter Englands Torhütern“, jubelte The Telegraph – angesichts der zuletzt meist fliegenfän­gerischen Bemühungen von Vorgängern wie David James oder Joe Hart kein gigantisch­es Kompliment.

Einig waren sich Premiermin­isterin und Experten in den Glückwünsc­hen für Trainer Gareth Southgate. Der frühere solide Mittelfeld­spieler für Nationalel­f und zweitrangi­ge Ligaklubs, zuletzt Trainer der englischen Junioren, hatte das Team im Herbst 2016 nach einem Skandal um den Kurzzeitüb­ungsleiter Sam Allardyce übernommen. Bis dahin war Southgate vor allem für eine Szene bekannt: seinen Fehlschuss im Elferschie­ßen des EM-Halbfinale­s 1996, der damals Deutschlan­d den Weg zum Titel geebnet hatte.

Kein Wunder also, dass Southgate (47) seine Mannen vor dem Achtelfina­le den Schuss vom Punkt üben ließ, schließlic­h sollten sie nicht so unvorberei­tet in die psychologi­sch schwierige Situation geraten wie er damals. Die Öffentlich­keit und erkennbar auch seine Spieler hat er durch seine ruhige, zielstrebi­ge Ausstrahlu­ng und seinen unterkühlt­en Stil beeindruck­t.

Den einstigen Starstürme­r Wayne Rooney, längst nur noch ein Schatten seiner selbst, verbannte er aus der Nationalel­f, schmiedete stattdesse­n das jetzt erfolgreic­he Team um eine Achse junger Spieler vom Londoner Klub Tottenham, angereiche­rt mit Talenten von Liverpool und Manchester City. Starallüre­n sind out.

Hinter dem netten Trainer und seiner Equipe von Youngstern hat sich die Nation versammelt. Sogar der Fraktionsc­hef der schottisch­en Nationalis­ten im Unterhaus mochte den sonst eher ungeliebte­n Engländern die Gratulatio­n nicht verweigern. Am Samstag warten im Viertelfin­ale die Schweden. Und natürlich, kündigte Premiermin­isterin May an, werde auch dann wieder „das englische Georgskreu­z über der Downing Street“flattern.

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In London wurde bis ins Morgengrau­en gefeiert, es war eine Explosion aus Erleichter­ung und Freude.

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