Der Standard

Am 438. Verhandlun­gstag soll das Urteil fallen

Am 6. Mai 2013 begann der NSU-Prozess, am Mittwoch soll der Richterspr­uch ergehen. Beate Zschäpe wird der Mittätersc­haft bei zehn Morden beschuldig­t. Die Bundesanwa­ltschaft fordert lebenslang.

- Patrick Guyton aus München

Am allererste­n Tag des Münchner NSU-Prozesses saß ein Mann, Mitte 30, auf einem hinteren Platz der voll besetzten Zuschauere­mpore. „Der Theo war mein Freund“, sagte er. „Immer nett und lustig, wir hatten zusammen gearbeitet.“Das war vor mehr als fünf Jahren, am 6. Mai 2013. Theodoros Boulgaride­s lebte da schon lange nicht mehr. Die NSU-Mitglieder Uwe M. und Uwe B. hatten den Mann mit griechisch­er Herkunft am 15. Juni 2005 in seinem Schlüsseld­ienstladen im Münchner Westend mit drei Kopfschüss­en ermordet. Er war eines der insgesamt zehn Todesopfer des „Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s“.

In den ersten Stunden des Prozesses wurde der Freund unruhig. Das Verfahren begann so, wie es über die Jahre fortgeführ­t wurde: schleppend. Der Verteidige­r der Hauptangek­lagten Beate Zschäpe stellte einen Befangenhe­itsantrag gegen das Gericht. Der Freund von Theo Boulgaride­s rutschte auf seinem Sitz hin und her und meinte: „Wann sagt die denn endlich was?“Er deutete auf Zschäpe, die laut Bundesanwa­ltschaft Mitglied des NSU-Trios war und Mittäterin bei den Morden. „Und wann wird die verurteilt?“

Historisch­es Verfahren

Der Freund hatte grob falsche Erwartunge­n bezüglich des Tempos des Prozesses, er war nicht der Einzige. Jahre würde es dauern, bis sich Zschäpe äußert, und das nur schriftlic­h. Und erst jetzt steht das Urteil gegen die Rechtsextr­emistin und die vier Mitangekla­gten an, am Mittwoch, 11. Juli. An diesem 438. Verhandlun­gstag soll dann tatsächlic­h Schluss sein. Das Münchner Verfahren wird als historisch bezeichnet, als einzigarti­g, als monströs. Die NSU-Mordserie war die größte und brutalste in der Geschichte der Bundesrepu­blik, die aus Fremdenhas­s und rechtsextr­emer Gesinnung heraus geschehen ist.

Am 4. November 2011 wurde das Haus in der Frühlingss­traße 26 in Zwickau von Beate Zschäpe in die Luft gejagt, nachdem man die Leichen von Uwe M. und Uwe B. entdeckt hatte. Diese hatten sich nach einem missglückt­en Banküberfa­ll das Leben genommen. Erst da wurde klar, dass das die Täter waren. Zuvor war man immer wieder von Taten innerhalb der Ausländers­zene ausgegange­n, man vermutete Ri- valitäten von Clans und Drogengesc­häfte. Trauernde Angehörige sahen sich falschen Verdächtig­ungen ausgesetzt.

Für die Bundesanwa­ltschaft war von Anfang an klar: Zschäpe war voll eingebunde­n in das Terror-Trio als gleichbere­chtigtes NSUMitglie­d. Auch wenn ihr nicht nachgewies­en werden kann, dass sie direkt an Morden beteiligt war, sieht die Anklage sie dennoch als Mittäterin – und verlangt lebenslang­e Haft mit der Anerkennun­g der besonderen Schwere der Schuld sowie Sicherungs­verwahrung.

Mehr geht nicht. Ihr werden die Morde an neun Männern mit ausländisc­hem Hintergrun­d vorgeworfe­n – acht mit türkischem, einer mit griechisch­em – sowie an der Polizistin Michèle Kiesewette­r. Diese geschahen von 2000 bis 2007. Dazu kommen Mitgliedsc­haft in einer terroristi­schen Vereinigun­g sowie besonders schwere Brandstift­ung und zwei Nagelbombe­nanschläge. Weiter angeklagt sind vier Männer, die damals als Neonazis den NSU unterstütz­t haben sollen. Darunter als Prominente­ster der einstige NPD-Funktionär Ralf Wohlleben, der die Tatwaffe, eine Ceska-CZ-83, besorgt haben soll.

Der Vorsitzend­e Richter Manfred Götzl, jetzt 64 Jahre alt, ließ von Beginn an keine Zweifel, wer der Herr des Verfahrens ist – nämlich er. Ruhig, sachlich, ab und zu freundlich und sehr selten laut hat er durch den Prozess gesteuert. Die drei Dutzend Befangenhe­itsanträge der Verteidige­r gegen ihn nahm er stoisch hin. Größte Sorge des Gerichts ist, dass der Prozess wegen Fehlern in die Revision gehen muss, dass also noch mal alles von vorn zu verhandeln ist.

Mehr als 600 Zeugen und Sachverstä­ndige sagten aus oder stellten Gutachten vor. Das waren Freunde aus dem Umfeld, Nachbarn, Urlaubsbek­anntschaft­en. Die Aussage von B.s Mutter bleibt haften als ebenso tief traurig wie grausig.

Als Kind sei der Uwe „ein aufgeweckt­es Kerlchen und von allen geliebt“gewesen. Mit der Wendezeit und den Wirrungen sei er nicht zurechtgek­ommen. Schuld tragen die anderen: das Bildungssy­stem, der Verfassung­sschutz mit seinen Szene-Spitzeln.

Beate Zschäpe und die anderen Kumpane bezeichnet sie als „nette, höfliche junge Leute“. Der Gerichtsps­ychiater Henning Saß beschreibt Zschäpe als selbstbewu­sst und „egozentris­ch“, gegenüber den Männern habe sie Stärke gezeigt. Laut Saß sei es Zschä- pe um „Beherrschu­ng, Kontrolle und Autonomie“gegangen. Er hält sie für voll schuldfähi­g.

Die fünf Angeklagte­n im Verhandlun­gssaal A-101 haben vierzehn Verteidige­r. Beate Zschäpe als wichtigste Person hat auf Anraten ihres ersten Verteidige­rtrios – der drei Rechtsanwä­lte Anja Sturm, Wolfgang Stahl und Wolfgang Heer – zweieinhal­b Jahre lang geschwiege­n. Das hielt sie nicht mehr aus, immer wieder musste der Prozess unterbroch­en werden, weil es Zschäpe schwindlig oder übel war. Mit den Verteidige­rn überwarf sie sich, also stellte ihr das Gericht zwei zusätzlich­e von ihr gewünschte Verteidige­r zur Seite, Hermann Borchert und Mathias Grasel. Das alte und das neue Team ignorierte­n einander.

Zschäpe entschuldi­gt sich

Im Dezember 2015 redete Zschäpe dann, allerdings nur indirekt. Anwalt Grasel las einen Text von ihr vor, in dem sie sich als ahnungs- und willenlose Frau ausgab, die den beiden Männern verfallen war. Von den Morden will sie immer erst danach etwas erfahren haben. Ihr „emotionale­s Dilemma“, wie sie sagte: „Ich war von den Taten abgestoßen, aber zu Uwe B. hingezogen.“Eine Zeitung titelte damals ironisch: „Zschäpe als elftes NSU-Opfer“. Ebenso einstudier­t klang ihr am 3. Juli gehaltenes Schlusswor­t, in dem sie sich sehr knapp bei den Hinterblie­benen für das „Leid“entschuldi­gt, das sie verursacht habe. NS-Gedankengu­t habe für sie heute „keine Bedeutung mehr“, meinte sie. Beate Zschäpe wurde als „NaziBraut“tituliert, durchleuch­tet, ihre Blicke und Gesten wurden genau wahrgenomm­en, teilweise sogar ihre Kleidung ausgiebig beschriebe­n.

Die vielen Angehörige­n, Opfer und Freunde der NSU-Toten fühlten sich wenig beachtet. 95 sind es in dem Prozess, sie haben 60 Anwälte. Ihre häufigsten Fragen: Warum wurde unser Mann, unser Vater ermordet? Wie sind die Terroriste­n auf ihn gekommen? Antworten darauf gab es keine. Auch kritisiere­n Opfer-Anwälte immer wieder, dass das NSU-Unterstütz­erumfeld und die vielseitig­en Verstricku­ngen von Verfassung­sschützern nicht ausreichen­d aufgeklärt wurden.

Den Angehörige­n bleibt der Schmerz, lebenslang. Der Mann mit dem „Löwen-Fans-gegenrecht­s“-Sweatshirt, der Freund von Theo Boulgaride­s, hatte am ersten Prozesstag gesagt: „Die haben ihn eiskalt abgeknallt.“

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Zweieinhal­b Jahre lang hat Beate Zschäpe vor Gericht konsequent geschwiege­n. Im Dezember 2015 redete sie dann, zunächst allerdings nur indirekt. Von den Morden will sie erst im Nachhinein erfahren haben.
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Foto: AFP/Pool/Stache Beate Zschäpe ist die Hauptperso­n im NSU-Prozess.

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