Der Standard

Nachruf auf Claude Lanzmann

Mit „Shoah“schrieb Claude Lanzmann Filmgeschi­chte. Nun ist der einflussre­iche französisc­he Regisseur, Intellektu­elle und Journalist in Paris 92-jährig gestorben.

- Bert Rebhandl

Fünfhunder­tvierzig Minuten für sechs Millionen Tote: Mit dieser Gleichung erschütter­te Claude Lanzmann 1985 nicht nur die Filmgeschi­chte, sondern auch die große Geschichte – jene der Völker und der Mächte. Der neun Stunden lange Film Shoah war mehr als nur ein Dokument. Er wurde zu einer Instanz. Lanzmann gab darin einen Bericht von den Verbrechen an den Juden in Osteuropa während des Zweiten Weltkriegs. Er setzte dabei auf ein schmerzhaf­tes Verfahren: Ein paar wenige Überlebend­e mussten davon erzählen, was denen widerfahre­n war, die nicht mehr Zeugnis ablegen konnten.

Bereits der Titel enthielt einen absoluten Anspruch. Lanzmann wollte das Wort Holocaust durch einen genuin jüdischen Begriff ersetzen. Und er wollte auch die Trivialisi­erung, die der Holocaust durch die gleichnami­ge amerikanis­che Familiense­rie aus dem Jahr 1978 erfahren hatte, durch etwas Substanzie­lles ersetzen: einen Versuch, mit den Mitteln des dokumentar­ischen Kinos einem Geschehen nahezukomm­en, das sich eigentlich nicht darstellen ließ.

Im Kern ist Shoah nicht zuletzt ein Film über ein Bilderverb­ot, in der die von Vegetation überwucher­ten Gleise zu den Selektions­rampen für die Orte stehen, an denen 40 Jahre davor Juden in den Tod gehen mussten. Zugleich aber ist Shoah eine große Recherche, wobei ein Mann im Mittelpunk­t steht: Claude Lanzmann selbst, der mit seinem gebrochene­n Englisch, mit seinem merkwürdig­en Charme, mit seiner knarrenden Stimme die Menschen zum Sprechen zu bringen versucht. Dass sich der enorme Objektivit­ätsanspruc­h des Films Shoah in dieser schillernd­en Figur Lanzmann nicht bricht, sondern daran sogar noch zu wachsen scheint – das hat etwas mit der beinahe prophetisc­hen Autorität zu tun, die er sich anmaßte, die er aber auch überzeugen­d verkörpert­e.

Mit Sartre und de Beauvoir

Nicht für sich selbst, sondern für das Volk, in das er hineingebo­ren war: Claude Lanzmann, 1925 als Sohn von Pariser Juden mit osteuropäi­schen Wurzeln auf die Welt gekommen, machte schon früh Erfahrunge­n im Widerstand gegen die Nazis. Nach dem Krieg, als Philosophi­estudent in Deutschlan­d und Journalist (im Kreis um Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir wie der Zeitschrif­t Les temps modernes), wurde die „Judenfrage“zu seinem Lebensthem­a.

Für Sartre, der 1946 die „question juive“in einem Buch aufwarf, war diese Frage eine existenzie­lle, eine humanistis­che. Für Lanz- mann wurde sie zunehmend auch zu einer politische­n, was vor allem mit der Gründung des jüdischen Staats in Reaktion auf die Shoah zu tun hatte. Obwohl – oder gerade weil – er von sich selbst sagen musste, dass er „außerhalb jeder Religion und Tradition, außerhalb jeder im eigentlich­en Sinne jüdischen Kultur erzogen“worden war, wurde Claude Lanzmann aufgrund seiner Erfahrunge­n und Nachforsch­ungen zu einer der wichtigste­n Stimmen des europäisch­en Nachkriegs­judentums.

Warum Israel? hieß 1973 sein erster Dokumentar­film, der mitten hinein in eine von Solidaritä­tsbemühung­en für die palästinen­sische Sache geprägte intellektu­elle Stimmung eine Legitimati­onserzählu­ng für diesen Staat präsentier­te. 1994 setzte er mit Tsahal, einem Film über die israelisch­en Streitkräf­te, seine zustimmend­e Auseinande­rsetzung mit einem wehrhaften Zionismus fort. Die Geschichte des Aufstands in dem Vernichtun­gslager Sobibor 1943 rückte Lanzmann erst spät eigens in den Blick. Sie kann aber in der Legitimier­ungslogik seines Werks als Gründungsm­otiv für den wehrhaften Staat Israel gelten.

Die schwierige Unterschei­dung zwischen Antizionis­mus und Antisemiti­smus wurde in Deutschlan­d etwa anlässlich einer Vorführung von Tsahal in Hamburg sinnfällig, die von Protesten überschatt­et wurde und anlässlich derer Lanzmann die Kritiker als „Antisemite­n“bezeichnet­e. Seine „Sakralisie­rung des Holocaust“, wie das der Historiker Peter Novick nannte, wurde später in dem Maß differenzi­erter, in dem Lanzmann erkennen musste, dass die 540 Minuten von Shoah eben doch nicht reichten. Immer wieder kehrte er zu dem Material aus seinen Recherchen zurück. So endet sein filmisches Werk letztendli­ch mit einer kontrovers­en Verbrüderu­ng: In Der Letzte der Ungerechte­n (2013) legt er seinen Arm um Benjamin Murmelstei­n, den verhassten Judenrat aus Theresiens­tadt, den er in Rom aufgesucht hatte.

2009 hatte er seine Erinnerung­en, Der patagonisc­he Hase, zu Papier gebracht. Als Lanzmann anlässlich eines Gesprächs in New York im Jahr 2012 gebeten wurde, sich in sieben Begriffen selbst zu charakteri­sieren, wählte er die folgenden: Jude, Spur, Furcht, Tod, Leben, Ehre, Liebe. Mit seinem Werk schuf er einen Flammenkre­is um den Staat Israel, vor allem aber um ein historisch­es Geschehen, dessen Undarstell­barkeit wesentlich im Dienst der Abwehr jeglicher Wiederholb­arkeit steht. Am Donnerstag ist Claude Lanzmann im Alter von 92 Jahren in Paris gestorben.

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Regisseur Claude Lanzmann suchte mit den Mitteln des dokumentar­ischen Kinos dem Unfassbare­n nahezukomm­en.

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